Literatur als Wagnis
Vier Romane hat Ann Quinn geschrieben, die nun vom März-Verlag mit »Passagen« wiederentdeckt wurden. Die Schriftstellerin, 1936 in Brighton geboren, einer Arbeiterfamilie entstammend, hat in der englischen Literatur den Ruf einer avantgardistischen Stimme, begründet durch ihren grotesken Debütroman »Berg«, der 2020 als Taschenbuch auch auf Deutsch neu aufgelegt wurde.
Während »Berg« mit maliziösem Humor aufwartet, ist »Passagen« in seiner verstörenden Bildsprache ein Werk subtiler Gewalt. Eine Frau ist darin mit ihrem Liebhaber auf der Suche nach ihrem verschollenen Bruder. Dabei sind beide auch auf der Suche nach sich selbst, ebenso nach dem Selbst im Anderen. Mit Ann Quinn wartet man nicht auf Godot, sondern man macht sich auf den Weg, ihn zu finden. Immer am Meer entlang. Immer am Rand der Existenz. Quinns Roman, schreibt die Literaturwissenschaftlerin Claire-Louis Bennet in ihrem Vorwort, »will am Stück gelesen werden, denn anders lässt es sich nicht erfahren«. So ist es. Es ist aber auch ein Wagnis, »Passagen« am Stück zu lesen, denn Quinns Literatur legt die Axt an das gefrorene Meer in uns, wie Kafkas Diktum für wahrhaftige Literatur lautete. Wem das bei »Passagen« nicht gelingt, dem sei »Berg« als Einstieg ans Herz gelegt.
Rüdiger Dittrich
Ann Quinn: Passagen. 132 Seiten. 20 Euro. März-Verlag.