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»Mach mal Video!«

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Ja, wohin fliegen sie denn? Vor dem Fenster unseres Autors zeigt eine Tauben-Gang wie diese hier eine spektakuläre Luftshow. Foto: dpa © dpa

Götz Eisenberg widmet sich in seinen Stadtbetrachtungen diesmal Handy-Kindern, einer Tauben-Flugshow und einem Baguette im Mülleimer.

Neulich sah ich eine Mutter mit blau-grün gefärbten Haaren, die ihren Nachwuchs im Kinderwagen vor sich herschob. Im Vorübergehen sah ich, dass das vielleicht eineinhalb Jahre alte Kind ein Smartphone vor sich liegen hatte, auf dem es recht geübt herumwischte. Der Blick war starr auf das Geschehen auf dem Display gerichtet. Die Welt schien für dieses Kind nur aus diesem kleinen flimmernden Rechteck zu bestehen.

Ich kann mich mit so etwas einfach nicht abfinden und würde in solchen Fällen am liebsten einschreiten und die Mutter zur Rede stellen. Das hat aber keinen Sinn, denn sie würde, was ich ihr zu sagen hätte, nicht verstehen. Diesen Eltern, ist gar nicht bewusst, welche Schäden sie bei ihren Kindern auf diese Weise hervorrufen. Vielleicht fallen diese Beschädigungen demnächst gar nicht mehr auf, weil sie zur neuen Normalität gehören werden. Als ich diese Mutter wenig später noch einmal sah, weinte das Kind. Der Grund: Die Mutter hatte das Handy an sich genommen, um nun ihrerseits darauf herumzuwischen. Das Kind quittierte das mit wütendem Gebrüll. Der inzwischen allseits anschlussfähige Sascha Lobo teilte kürzlich seinen Followern mit, er habe seinem eineinhalbjährigen Sohn zu Weihnachten ein Smartphone geschenkt. Die Frau mit den bunten Haaren befindet sich also in illustrer Gesellschaft.

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Über den Dächern der Nachbarhäuser zieht eine Tauben-Gang ihre Kreise. Jeden Vormittag veranstaltet sie dort eine Flugshow. Alle paar Runden lassen sie sich auf dem Dach des Nachbarhauses nieder und erholen sich eine Weile. Dann brechen sie auf ein geheimes Zeichen hin wieder zu neuen akrobatischen Schauflügen auf. Es ist ein Schwarm, der aus circa 25 Vögeln besteht. Ob es stets dieselben sind, vermag ich natürlich nicht zu sagen, ebenso wenig weiß ich, wie sich diese Gang zusammensetzt und wie man in sie aufgenommen wird. Heute beobachtete ich, dass sie sich vom Dach fallen lassen und erst kurz vor dem Boden den freien Fall stoppen und gerade noch die Kurve zum Balkon des Rechtsanwalts gegenüber kriegen. Aus lauter Jux und Dollerei betreiben sie eine Art Bungee Jumping. Dann setzen sie ihre Flugshow fort. Die blitzartige Gleichzeitigkeit in der Steuerung und Reaktion der Vögel bleibt ein fantastisches Rätsel. Es gibt ja Starenschwärme, die aus zigtausend, ja Millionen von Vögeln bestehen und deren einzelne Teilnehmer sich vollkommen synchron bewegen. Ihr Flug hat keinen Sinn und dient keinem Zweck. Es ist Ausdruck der Lust am gemeinsamen Fliegen und purer Lebensfreude.

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In der Fußgängerzone sehe ich einen vielleicht dreijährigen Knirps und seine Großmutter. Der Dreikäsehoch sagt zu seiner Oma: »Mach mal Video.« Die Großmutter sagt: »Dann musst du aber tanzen.« Und sofort vollführt der kleinen Kerl gekonnt Bewegungen, die er in den Clips seiner Vorbilder gesehen hat.

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Ein älterer Herr ist mit seinem Kleinwagen in eine der Baugruben gefahren, die seit einiger Zeit in unserer Straße immer wieder neu entstehen. Der stetige Wechsel von Aufreißen und Zuschütten erinnert an Ephraim Kishons »Blaumilchkanal«. Der Mann in Gießen muss beim Rückwärtsfahren die Kontrolle über das Auto verloren haben, durchbrach die Absperrung um die Baugrube und rutschte auf eins der Nachbarhäuser zu. Das rechte Heck krachte in die hölzerne Eingangstür, das linke schwebt nun über dem Loch. Der Lärm, den das Durchbrechen der Absperrung und das Bersten der Haustür erzeugte, hat dazu geführt, dass im Handumdrehen einige Nachbarn herbeigeeilt sind.

Eine größere Menschenansammlung hat sich um den alten Herrn versammelt. Jemand reicht ihm ein Glas Wasser, ein anderer Nachbar schleppt einen Klappstuhl samt Sitzkissen herbei, jemand legt dem Mann eine Decke um die Schultern. Ein Polizeiauto trifft ein, wenig später auch ein Rettungswagen. Der alte Herr wird in den Krankenwagen geführt und dort vermutlich untersucht und versorgt. Die Polizisten haben die Hände in den Hosentaschen und gehen ein wenig gelangweilt auf und ab. Die Nachbarn kehren nach und nach in ihre Wohnungen zurück. Die noch verbliebenen Zuseher erzählen sich unablässig, wie es vermutlich zu dem Unfall gekommen ist.

Eine junge Mutter aus einem Nachbarhaus hat sich ihr Baby vor die Brust gebunden und kann sich vom Unfallort nicht losreißen. Passanten werden von den verbliebenen Schaulustigen über das Geschehen informiert. Zahlreiche Fotos werden gemacht und in die Welt geschickt. Kurzum, es ist etwas los »auf der Gass’« an diesem Sonntagvormittag. Der unfreiwillige Held der Geschichte ist unterdessen von den Sanitätern ins Krankenhaus mitgenommen worden. Der Abschleppdienst lässt auf sich warten. Noch hängt das Auto mit eingeschalteter Warnblinkanlage über dem Abgrund. Wer will, kann in der Szenerie ein Symbol und Menetekel erblicken, ein Vorzeichen kommenden Unheils. Mann kann es aber auch dabei belassen, dass ein alter Mann sich versteuert hat und mit dem Hinterrad in eine Baugrube geraten ist.

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Als ich neulich meinen organischen Abfall in die grüne Tonne unten im Hof werfen wollte, sah ich, dass in der Tonne zu oberst ein Baguette lag. Es stammte offensichtlich aus einer Bäckerei, war unversehrt und nicht einmal angeschnitten. Einen Moment lang erwog ich, das Brot aus der Tonne zu holen und mitzunehmen. Ich beugte mich über den Rand und griff nach ihm. Es war von einer Nacht in der Tonne feucht und weich geworden, schien aber ansonsten intakt und auch nicht nennenswert beschmutzt. Aus einer eigenartigen Scheu ließ ich es liegen. Containern im eigenen Hinterhof? Das kam mir peinlich vor. Meine Scham ist mit dem Konsumismus im Bunde.

Der Gießener Götz Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitet an einer »Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus«, deren dritter Band unter dem Titel »Zwischen Anarchismus und Populismus« (Verlag Wolfgang Polkowski) erschienen ist. Foto: Polkowski

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gikult_goetz_290122_4c_12 © Red

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