Mahnmal für toten Radfahrer

Critical Mass erinnert mit einem »Geisterfahrrad« an den tödlichen Radunfall in der Marburger Straße/ Ecke Sudetenlandstraße und fordert mehr Sicherheit für Radfahrer im Gießener Stadtverkehr.
Gießen. Trauriger Anlass die Mission von Critical Mass, die sich zur Sonntagsausfahrt per Fahrrad durch Gießens Straßen vor dem Universitätshauptgebäude in der Ludwigstraße versammelt hatte. Schon wieder war innerstädtisch ein Fahrradfahrer im Straßenverkehr zu Tode gekommen, als vor zwei Wochen ein Lkw-Fahrer an der Ecke Marburger Straße/Sudetenlandstraße beim Rechtsabbiegen einen Geradeausradelnden übersehen hatte. Wie in der Frankfurter Straße und in der Ludwigstraße wurde am Ort des tödlichen Unfallgeschehens ein weißes Fahrrad aufgestelllt. Eine halbe Stunde lang wurde der Kreuzungsbereich von der Polizei für den Verkehr gesperrt. Organisatorin Diana Schwaeppe: »Ich wünsche mir, sicheres Radfahren für Jung und Alt - hier in Gießen und auch sonst überall in der Welt.« 30 Menschen gedachten des gestorbenen Radfahrers.
»Wir müssen nach der Versammlung leider das Fahrrad wieder mitnehmen, da der öffentliche Raum dafür laut Ordnungsamt kein Platz bietet,« bedauerte sie. Ob das Fahrrad später in der Nähe auf ein Privatgrundstück dauerhaft sichtbar abgestellt werden kann, muss noch geklärt werden. »Wohl die meisten von uns kannten den Fahrradfahrer, der an dieser Kreuzung getötet wurde nicht. Dennoch wollen wir ihm gedenken und eine Schweigeminute einlegen.« Jeder Verkehrstote sei einer zu viel. Jährlich würden zwischen 400 und 500 Menschen beim Radfahren in Deutschland sterben. Zweidrittel der tödlichen Unfälle geschähen an Kreuzungen oder Einmündungen. »Meist sind Kreuzungen nämlich nicht für Radfahrende gemacht. So wie diese hier.« Im Zweifel werde immer für den besseren Fluss des Autoverkehrs geplant und nicht für sicheres Fahrradfahren. Dabei sollte Verkehrssicherheit vor Verkehrsfluss gehen. Wenn ein Mensch drei Minuten später zuhause eintrifft, »dann ist das für mich okay.« Was für sie dagegen gar nicht okay sei: »Wenn ein Mensch überhaupt nicht und auch nie wieder zuhause ankommt.«
»Wie in einer Ersatzgebärmutter«
Sich nicht sicher zu fühlen sei der Hauptgrund, warum viele Menschen nicht Fahrrad fahren, noch vor Wetter oder Komfort. Aber auch Viel-Radfahrende fühlten sich oft nicht sicher und begegneten teilweise täglich ihrer Angst. Ein Blick in die Statistiken zeige, dass im Laufe der Jahrzehnte die Verkehrstoten zwar immer mehr zurückgingen. Allerdings treffe das in erste Linie auf reine Autounfälle zu. »Denn Automobile werden immer mehr zu Panzern. Mit Airbags, Sicherheitsgurten und Überrollbügeln.« Da sei es kein Wunder, dass sich viele Menschen in ihren Autos sehr geborgen fühlten. »Wie in einer Ersatzgebärmutter«, so Schwaeppe. Und merkten dabei gar nicht, dass sie in einer tödlichen Waffe säßen. Zwar könnten an dieser Kreuzung gezielte Sicherheitsmaßnahmen helfen, aber: »Insgesamt bleiben wir damit im bestehenden System Autoverkehr.«
In den Kraftfahrzeugen säßen Menschen, die auch mal unkonzentriert seien, einfach einen schlechten Tag hätten oder aus Stress doch schnell noch über die rote Ampel huschten. »Wirkliche Sicherheit erhalten wir erst, wenn wir die Autos und auch den Lastenverkehr aus der Stadt rausbekommen.«
Möglich sei dies durch den Ausbau des ÖPNV, RegioTrams, Geschwindigkeitsbegrenzungen, Durchfahrverboten, Parkplatzverteuerung und -verknappung im öffentlichen Raum und sichere und komfortable Fuß- und Fahrrad-Infrastrukturen.
Dietmar Jürgens vom Kreisverband des Verkehrsclubs Deutschland (VCD) vertrat bei seiner Rede die Ansicht, dass Gedenken und Trauer nicht dazu führen dürfen, unmittelbaren Handlungsbedarf nicht auch unverzüglich anzusprechen. Es ginge nicht um Schuld und Schuldzuweisungen, sondern um Verantwortung. »Die ist bei Abbiegeunfällen mit Lkw wegen des hohen Risikos insgesamt enorm.« Der Umfang des Risikos ergebe sich aus der hohen Unfallhäufigkeit und den gravierenden Folgen im Einzelfall. Nämlich den getöteten oder schwerstverletzten Radfahrenden. »Zurück bleiben auch traumatisierte Hinterbliebene und Angehörige der Unfallopfer, Unfallhelfende und nicht zuletzt die Lkw-Fahrer; unabhängig vom individuellen Verschulden«, so Jürgens.
Der VCD erkenne die von der Stadt Gießen bereits verwirklichten und konkret geplanten Umbaumaßnahmen an den Verkehrsknotenpunkten ausdrücklich an. »Soweit bereits umgesetzt, wurde die Sicherheit der Radfahrenden deutlich erhöht.«
Vorgezogene Haltelinien
Der VCD schließe sich jedoch der Forderung des ADFC an, den aufwendigen Kreuzungsumbau mit neuen Signalanlagen nicht abzuwarten. Im neuen Jahr sollten umgehend einfache umsetzbare Sofortmaßnahmen geprüft und ergriffen werden. So an Kreuzungen die Markierung vorgezogener Haltelinien für Radfahrende. »Damit diese sich gut sichtbar vor den Kraftfahrzeugen aufstellen können.«