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»Man bekommt hier Gänsehaut«

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Von: Ingo Berghöfer

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Gemeinsam mit Rabbiner Shimon Großberg (3.v.l.) und Stadtarchäologe Björn Keiner (l.) besuchen Mitglieder der Jüdischen Gemeinde Gießen die kürzlich entdeckten Überreste der Neuen Synagoge an der Südanlage. Foto: Berghöfer © Berghöfer

Mitglieder der Jüdischen Gemeinde Gießen besichtigen die freigelegte Ruine der 1938 von den Nazis zerstörten Synagoge. Der Stadtarchäologe erläutert dabei auch die nächsten Schritte.

Gießen . Eigentlich war eine kleine Trauerfeier geplant, doch weil Gießens Rabbiner Shimon Großberg an diesem unwirtlichen und regnerischen Tag nicht die in der Thora vorgeschriebene Mindestzahl von zehn männlichen Betern um sich versammeln kann, bleibt es für das knappe Dutzend Gemeindemitglieder bei einer Führung über das Grabungsgelände mit Stadtarchäologe Björn Keiner.

Gießens Jüdische Gemeinde ist klein geworden. Vorbei sind die Zeiten, als bis zu 500 Gläubige sich in der Neuen Synagoge drängten, deren Grundmauern seit wenigen Wochen wieder als stummes Zeugnis des dunkelsten Kapitels unserer Stadtgeschichte zu sehen sind.

»Wo war die Mikwe?«, wird Keiner immer wieder gefragt, eine Antwort kann er aber leider nicht geben. Das Ritualbad, das eine herausragende Rolle im jüdischen Ritus spielt, hat sich nicht im jetzt freigelegten mittleren Drittel der Synagoge befunden. Weil die erhaltenen Baupläne keine Auskunft geben, muss die Frage vorerst offen bleiben. Entweder hat es sich im ehemaligen Gemeindehaus hinter der Synagoge befunden, das Naziterror und Bombenkrieg nahezu unbeschadet überstanden hatte, um dann Anfang der 1960er Jahre für den Bau der Kongresshalle abgerissen zu werden, oder das Bad befand sich im vorderen Drittel des Gebäudes, das jetzt noch unter der Grasnarbe liegt.

»Aus archäologischer Sicht wäre es auch am besten, wenn das so bleiben würde«, sagt Keiner, »weil nichts so gut historische Artefakte konserviert wie der Boden«. Aber der Stadtarchäologe weiß natürlich auch um die Brisanz des in dieser Qualität von niemandem erwarteten Fundes. Die Nazis hatten die vollständige Zerstörung der Synagoge gefeiert. Beim Bau der Kongresshalle wurden die damals offensichtlich entdeckten Überreste wieder zugeschüttet und totgeschwiegen.

Untersuchungen mit Bodenradar

Das soll sich heute nicht wiederholen. Die Diskussion um den richtigen Umgang mit der Neuen Synagoge hat längst begonnen. Als eine erste Maßnahme soll in Kürze mit einem Bodenradar das vordere Drittel der Synagoge untersucht werden. Zwar ist der zur Südanlage hin schlechter werdende Zustand der ausgegrabenen Mauern ein Indiz dafür, dass die Nazis ihr Zerstörungswerk dort gründlicher verrichtet haben, allerdings kann sich Björn Keiner nicht vorstellen, dass man sich damals die Mühe gemacht hat, die besonders mächtigen Fundamente der beiden Türme abzutragen, die den Eingang der Synagoge flankierten,

»Man bekommt Gänsehaut, wenn man hier steht«, sagt Alexej Shainski, stellvertretender Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Gießen, der immer wieder die Fragen der Mitglieder übersetzen muss, die nicht gut genug Deutsch sprechen. Aber die Ergriffenheit und das echte Interesse an einem Gotteshaus, in dem einst andere Menschen zum selben Gott beteten, sind groß. Auch wenn noch offen ist, wie und in welchem Umfang die Stadt sich ihrem jetzt wieder ans Tageslicht gekommenen Erbe stellen will, steht jetzt schon fest, dass die Planungen für die Erweiterung des Kongresshallen-Foyers überarbeitet werden müssen.

»Dann hörten die Mauern einfach nicht mehr auf«

Ursprünglich sollte im jetzt freigelegten Bereich ein großer Wasserbehälter eingegraben werden, weil man bestenfalls mit ein paar Steinen und kleineren Mauerresten gerechnet hatte. Schon die erste Testgrabung auf einem Quadratmeter Fläche brachte jedoch verkohlte Überreste jüdischer Gebetsbücher zum Vorschein, sodass klar war, dass man weitergraben musste. »Und dann hörten die Mauern einfach nicht mehr auf«, erinnert sich Keiner. Die eigentliche Planung sei damit definitiv vom Tisch, denn »man baut keine Zisterne in eine Synagoge«.

Shainski betont, dass die Jüdische Gemeinde in Gießen hofft, in den Entscheidungsprozess über den zukünftigen Umgang mit der Synagoge eingebunden zu werden und dankte dem Archäologen und dessen Kollegen für die gute Arbeit bei der Freilegung.

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