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»Man liebte es mondän«

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Spannendes und Skurriles über die die Villen und ihre Eigentümer berichtet Dr. Jutta Failing. Foto: Czernek © Czernek

Feste, Villen, Lustbarkeiten: Neue Stadtführung mit der Historikerin Dr. Jutta Failing rund um den »Stein’s Garten« in Gießen ergänzt das Programm der Tourist-Info.

Gießen. »Gießen entdecken« lautet das Motto der Gießener Touristeninformation und das geht besonders gut bei den vielen thematischen Stadtführungen. Jedes Jahr kommen neue dazu, wie die Führung »Mondänes Gießen - Villen, Feste, Lustbarkeiten rund um Stein’s Garten«, die von der Historikerin Dr. Jutta Failing ausgearbeitet wurde. Premiere war am Samstag. Trotz widrigen Wetters war die Führung ausgebucht. Sie bot Einblicke in das mondäne Leben des 19. Jahrhunderts rund um »Steins’Garten«. »Das Geld war und ist am Nahrungsberg zuhause«, sagte Dr. Failing und bewies dies mit ihrem erfrischend-spannenden Vortrag, der die Erbauer der Häuser den Teilnehmern auf heitere Weise näherbrachte.

Inhaltlich schließt sich das neue Angebot an die Führung »Millionärshügel« des Gießener Südviertels an. Das Gelände, auf dem noch heute das Hotel »Steinsgarten« steht, hat eine bewegte Geschichte hinter sich, berichtete die versierte Historikerin.

Varieté-Künstler

Die feine Gesellschaft der Industriellen und Professoren wollte im 19. Jahrhundert gebührend feiern und das tat sie auf dem Gelände von Wilhelm Wenzel, einem illustren Gastronomen, der etliche Jahre in San Francisco verbracht hatte. Er kehrte mit vielen Ideen in seine Heimatstadt zurück und übernahm »Zinßers Garten«, vormals »Busch’er Garten« am Nahrungsberg. Der geschäftstüchtige Wenzel engagierte Varieté-Künstler, und auch »Völkerschauen« wurden dort gezeigt. In dem großen Festsaal konnten bis zu 1000 Personen ihre Bälle feiern, ein Musikpavillon und Außenbewirtschaftung komplettierten den kleinen Vergnügungspark in der Stadt. Von seinem Nachfolger Caspar Stein erhielt das Gelände, das sich tortenstückartig von der Gartenstraße und der heutigen Hein-Heckroth-Straße bis zum Nahrungsberg erstreckte, seinen Namen: »Steins’Garten«.

Leider waren die darauffolgenden Gastronomen bei weitem nicht mehr so erfolgreich, so dass das Hotel-Restaurant 1907 in Konkurs ging. Im Ersten Weltkrieg diente es als Reservelazarett, ab 1919 war dort bis in die 1950er Jahre die Bürgermeisterei von Gießen untergebracht. Als das Gebäude für die Verwaltung zu klein wurde, errichtete Hermann Dirksmöller das Behördenhochhaus am Berliner Platz.

Überhaupt begegnete man bei dem Rundgang ständig den architektonischen Hinterlassenschaften des Stararchitekten der Nachkriegszeit. 1970 wurde an dieser Stelle erneut ein Hotel errichtet, das als Reminiszenz an vergangene Zeiten seitdem den Namen »Steinsgarten« trägt.

Die Ursprünge dieses Geländes reichen bis ins 18. Jahrhundert zurück. Christoph von Drechsel baute 1763 dort ein schlossartiges Gebäude, das damals noch außerhalb der Stadt lag. Dieses Gelände entwickelte sich immer mehr zum Treffpunkt der illustren Gesellschaft, so dass auch dort in unmittelbarer Nähe bewusst sehr repräsentative Villen am Nahrungsberg entstanden, bis in die jüngste Zeit.

»Die ›Swimming-Pool-Dichte‹ in diesem Viertel ist heute sehr hoch«, berichtete Failing. Gegenüber dem Hotel befindet sich die Villa Ockel, die 1893 errichtet wurde. Hierzu hatte die Stadtführerin eine spannende Geschichte recherchiert: Bei einer Autofahrt 1888 ging Bertha Benz das Benzin aus. In der Stadtapotheke von Wiesloch kaufte sie einige Liter. Der Apotheker war Willy Ockel, der sich später diese opulente Villa in Gießen errichten ließ. »So gesehen war Ockel der erste Tankwart der Geschichte«, schmunzelt Failing.

Aus welchen Gründen er sich wenige Jahre später in Gießen niederließ, das konnte man bisher nicht herausfinden. Wenige Meter abwärts ist eine Gail’sche Villa zu finden, der Witwensitz von Maria Gail, der zweiten Ehefrau von Carl Gail, die dort bis 1923 lebte.

Im unteren Teil der Gartenstraße zieht eine massive Villa im neugotischen Stil die Blicke auf sich: Das massive Gebäude ist aus dem gleichen dunklen Londorfer Basalt errichtet, der auch zum Bau der Johanneskirche verwendet wurde und der sich auch im Hotel Adlon wiederfindet. Es wurde 1870 für den Hofgerichtsadvokat Wilhelm Engelbach errichtet.

Schräg gegenüber laufen die Hein-Heckroth-Straße und die Gartenstraße spitzförmig zusammen. Dort an der Spitze unter einer Hängebuche stand ursprünglich ein Gedenkstein für »Turnvater Jahn«, der an das Gauturnfest 1912 erinnerte.

Turnvater Jahn

Der Blick darauf war ein sehr beliebtes Postkartenmotiv. Der mächtige Baum steht heute noch. Der Gedenkstein allerdings wurde versetzt und befindet sich im Garten unterhalb des Hotels. Es ist jedoch nur schwer erkennbar um wen es sich dabei handelt, da eine Erläuterungstafel fehlt.

Nach einem Abstecher zum Hotel am Ludwigsplatz und der Erinnerung daran, dass dort in der Nachkriegszeit berühmte Stars wie Magda Schneider, Vico Torriani oder Max Schmeling logierten, endete der Spaziergang in dem Haus der Burschenschaft Alemannia, das am Rande des Nahrungsbergs thront. Dort befand sich ab 1905 bis in die 1980er Jahre auch der erste Tennisplatz Gießens. »Man liebte es mondän und die vielen Villen legen Zeugnis davon ab«, so Failing abschließend.

Buchbar ist die spannende Villen-Führung über die Tourist-Information oder direkt bei Dr. Failing (jutta.failing@glueckshaut.de).

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