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Manisch in rot-weiße Phase

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Von: Rüdiger Dittrich

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Hier kann man so schön Slalom fahren. Gießen und sein rot-weißer Hindernis-Parcours. Foto: Schäfer © Schäfer

Wenn in Gießen was gemacht wird, dann alles auf einmal, bis nichts mehr geht - eine Satire.

Gießen . Eine bei näherer Betrachtung äußerst eingängige These stellte der Fahrer unseres Taxis vergangene Woche in den Fahrgast-Raum. Er denke, dass die Stadt Gießen jene Halle, in der normalerweise die rot-weißen Fahrbahnabsperrungen und Schilder gelagert werden, entweder verkauft oder vermietet habe. Und da man demzufolge nicht mehr wisse, wohin mit den Schildern, verteile man sie wahllos in der Stadt.

Man kann bei dem Versuch durch Gießen zu fahren, dieser Theorie nicht vollends widersprechen, rutscht dabei sogar in Verschwörungstheorien, dass da ein großer Plan, wenn auch ein planloser dahinterstehen müsse. Der könnte lauten, einfach jahrelang nichts zu tun und dann alles auf einmal machen zu wollen.

Klinisch betrachtet nennt man das wohl manisch-depressiv, aber kann eine Stadt als solche eine manische Phase haben? Naja, da das Manische in Gießen sogar gesprochen wird, ist der Verdacht nicht vollends von der Hand zu weisen. Derzeit jedenfalls erschreckt sich der Fahrzeuglenker fast schon, wenn in einer Straße mal kein rot-weißer Zaun in der Gegend und also im Weg rumsteht. Es soll sogar schon Bürger gegeben haben, die darauf hinweisen wollten, dass in der Straße XY keine Baustelle sei. »Da kann doch was nicht stimmen!«

Nun wollen wir unserer unerschrocken der Verkehrswende hinterherjagenden Heimatstadt nicht Unrecht tun, denn tatsächlich gibt es wohl keinen Autofahrer, der nicht klagt, genau seine Stadt sei die Schlimmste. Ob Frankfurter, Wetzlarer, Kassler und Kasselaner. Die Baustelle und das Problem damit ist möglicherweise ein nur in den Köpfen herumspukender Geist, den es so gar nicht gibt. Außer in Gießen natürlich, sonst bräuchte ich das ja nicht zu schreiben.

Bei uns wird clevererweise immer gleichzeitig der Asphalt gehobelt, gefräst, aufgebohrt, geteert und gefedert. Das gilt übrigens auch für die Sporthallen, deren Instandsetzung stets solange rausgezögert wird, bis in jeder zweiten das Dach undicht oder der Bodenbelag für die Füße ist. Dann wird’s hektisch und zur gleichen Zeit eine Halle dicht gemacht, die nächste saniert und die dritte auch irgendwie bearbeitet. Schließlich kratzt sich irgendwann das Rathaus ratlos den Rathaus-Kopf, verwundert, warum plötzlich nur noch so wenige Hallenzeiten zu verteilen sind. Hätten wir doch mal vorher drüber nachgedacht, ei der Daus.

Das alles kommt von der in Gießen auffällig grassierenden Prokrastination, die auch als Aufschieberitis bekannt ist. Als Gießener kann man 1965 geboren sein, 2050 vom Acker gehen, um auf dem dann ablaufenden Sterbefilm den gesamten Vorspann mit Debatten über einen Hallenbau gequält zu werden, der nie gekommen ist.

Hallenbau auf dem Sterbefilm

Das alles kann man aber nicht alleine der Stadt (was soll das überhaupt sein, das ist doch nur ein imaginäres Etwas) in die Schuhe schieben, denn in Deutschland gibt’s ja immer ganz viele, die beteiligt sind, wenn’s darum geht Entscheidungen in die Länge zu ziehen: Land, Kreis, Stadt, Kommune, der Bund, Schulamt, Bauamt, Aufsichtsbehörde, Brandschutz (ganz viel Brandschutz), Versicherungsschutz, Innenministerium, Außenministerium, Sachverständiger, Sachverständigenbeauftragterverständiger und natürlich Bürgerinitiativen, die im schmutzigsten Bohrloch einen noch schmutzigeren Mistkäfer entdecken, für den erst ein Gutachten erstellt werden muss, ob er denn relevant ist für die Gesamt-Diversität.

Das ist aber auch praktisch, weil dann immer die anderen schuld sind an der Verzögerung. Man kann, sehr bequem, es sich gegenseitig in die Schuhe schieben. Amüsant auch: das Beispiel Schwanenteich. Weil das Konzept der Stadt nicht aufgeht, das der BI aber auch nicht so richtig, lassen wir es einfach mal drei Jahre. Das war der Plan zwischendurch. Das heißt heruntergebrochen auf den Durchschnittshaushalt: Weil ich die Spülmaschine nicht einräumen mag, die Kinder aber auch nicht, machen wir das dann im Januar. Prima Idee.

Aber zurück zur Verkehrswende, die, bevor sie offiziell vollzogen wird, in Gießen sozusagen durch die kalte Küche kommt. Überall Baustellen und dann noch das Verbot, die Gehwege beim Parken mitzubenutzen, damit es richtig schön eng wird und man per Stop and Go noch mehr Auspuffgase in die Luft bläst, als wenn man mit einheitlichen 30 Sachen durchfahren kann. Dazu die seit Jahrzehnten eingesetzte Geheimwaffe in der Frankfurter Straße: Wenn dort die Schranken unten sind, dann aber richtig. Da kann man Kinder zeugen und bekommen - in der Zeit.

Wer will unter diesen Umständen noch Autofahren? Keiner. Und ehrlich: das ist auch nicht nötig - Gießen ist klein, macht nur auf dicke Hose. Es geht alles gut zu Fuß oder auf dem Rad. Oder eben mit dem Bus. Wenn er nicht gerade zwischen rot-weißen Baustellenschildern festklemmt oder nicht um die Kurve kommt, weil das Gehwegparken dort verboten ist, wo es Fußgänger nicht stört, es dafür aber auf der Fahrbahn ständig zu Fast-Unfällen kommt. Und das mit der Halle für die Schilder? Die wurde vermutlich freigeräumt für Schul- und Vereinssport - in der manischen Phase.

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