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Mentale Rotation

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Der Drehwinkel oben und unten ist jeweils derselbe, aber es scheint, als sei das untere Objekt stärker gedreht worden. Grafik: Emma Stewart © Red

Ein Forscherteam der JLU Gießen kommt in seiner Studie zu dem Schluss: Das Gehirn simuliert die zweidimensionale Darstellung von 3D-Informationen.

Gießen (red). Menschen haben die bemerkenswerte Fähigkeit, sich Dinge vor ihrem »geistigen Auge« vorzustellen und sogar die vorgestellten Objekte zu drehen und zu manipulieren - als wären sie fast real. Doch die genaue Funktionsweise dieser reichhaltigen inneren Welt blieb bislang ziemlich rätselhaft. In einer kürzlich in der Fachzeitschrift »Current Biology« veröffentlichten Studie haben Wahrnehmungsforscherinnen und -forscher der Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU) einen neuen Einblick in die Mechanismen gewonnen, die den visuellen Vorstellungsfähigkeiten zugrunde liegen.

»In der Tat war die Entdeckung der mentalen Rotation einer der wichtigsten Meilensteine in der experimentellen Psychologie«, sagt Dr. Emma Stewart, Wahrnehmungspsychologin der Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU) und Erstautorin der Studie. »Jahrzehntelang sind wir davon ausgegangen, dass wir, wenn wir Objekte in unserem Kopf drehen, exakt die Drehung simulieren, die auch in der realen Welt stattfinden würde. Die Mechanismen im Gehirn, die uns eine so gute mentale Rotationsfähigkeit ermöglichen, sind jedoch nur unzureichend bekannt.«

Exakte Drehung

Menschen machen allerdings ständig kleine, aber systematische Wahrnehmungsfehler - zum Glück für die Forschung. Ein Beispiel: Wenn man sein Smartphone so vor sich hält, dass das Display frontal zu sehen ist, und es leicht seitlich dreht, wird man keinen großen Unterschied bemerken. Wenn dagegen die Unterkante des Smartphones auf die betrachtende Person gerichtet ist und es um dieselbe Gradzahl gedreht wird, wirkt der Unterschied viel größer. »Wir wollten Wahrnehmungsfehler wie diese nutzen, um zu verstehen, wie das Gehirn die mentale Drehung tatsächlich durchführt«, erklärt Prof. Roland Fleming, der Leiter der Arbeitsgruppe.

Um dies zu testen, nahmen Freiwillige an einem Experiment teil, bei dem sie Paare von computergenerierten Objekten auf einem Computerbildschirm betrachteten und deren Ausrichtung einschätzen sollten. Dabei zeigte sich, dass die Versuchspersonen einige Objektpaare als um unterschiedliche Winkel gedreht interpretierten, obwohl die physikalische Drehung immer die gleiche war. »Um Einblicke in die Hirnmechanismen zu gewinnen, die diese Fehler verursachen, brauchten wir ein Berechnungsmodell der zugrundeliegenden mentalen Operationen«, sagt Dr. Stewart.

Wenn sich etwas vor unseren Augen bewegt, berechnet das Gehirn den Weg, den es in 2D-Koordinaten zurückgelegt hat - ein Prozess, den Forschende als »optischen Fluss« bezeichnen.

Das Team erstellte ein Modell, das den optischen 2D-Fluss bei der Drehung eines Objekts simuliert, und verglichen die Simulationen mit den menschlichen Daten. »Die Ergebnisse waren verblüffend: Das Modell sagte das spezifische Muster der menschlichen Fehler mit unglaublicher Genauigkeit voraus«, sagt Dr. Stewart. »Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass wir bei der mentalen Rotation tatsächlich eine zweidimensionale Darstellung der 3D-Informationen simulieren, anstatt Objekte in unserem Kopf genauso zu drehen, wie wir es in der physischen Welt tun«, so Stewart.

»Optischer Fluss«

Die Ergebnisse deuten laut JLU darauf hin, dass unsere innere Welt möglicherweise nur eine abgeflachte Darstellung der Realität ist, ähnlich wie ein Videospiel eine 2D-Darstellung einer 3D-Welt ist.

Die seit langem bestehende Annahme, dass die mentale Rotation eine exakte Analogie zur physischen Rotation ist, hat nicht nur die Vorstellungen über die Fähigkeit des Menschen zur mentalen Imagination beeinflusst, sondern auch diejenigen über die menschliche Intelligenz, das räumliche Denken und die Navigation. Diese Ergebnisse bieten eine neue Perspektive auf diese Prozesse und haben Auswirkungen darauf, wie das Gehirn überhaupt sehen lernt.

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