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Missbrauch passiert nicht nebenbei

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Missbrauch geschieht nicht mal nebenbei oder gar zufällig: In einem Videoprojekt setzen sich die Jugendlichen der Theodor-Litt-Schule mit sexualisierter Gewalt auseinander. Foto: Schwaeppe © Schwaeppe

»Wildwasser« Gießen und der Kurs Darstellendes Spiel der Theodor-Litt-Schule drehen ein Video zur Prävention bei sexualisierter Gewalt unter Gleichaltrigen.

Gießen. »Lösch das!« Die 15-jährige Melissa ist verzweifelt. Ihr Mitschüler Max hat intime Bilder von ihr auf seinem Smartphone abgespeichert. Max grinst und hat gar nicht vor, die Fotos zu löschen. »Kommt mal her und schaut Euch das an«, ruft er vielmehr seinen Klassenkameraden zu, die sich bereitwillig um das Handy drängen und das Gesehene laut johlend und grölend kommentieren. »Du schickst uns die Bilder doch noch«, will einer der Jungs schließlich von seinem Kumpel wissen. Melissa hat ihr Gesicht in den Händen verborgen und fühlt sich ausgeliefert. Was soll sie nur tun?

Was die Jugendliche hier erlebt, ist sexualisierte Gewalt und eine Grenzüberschreitung vor der ganzen Klasse. Glücklicherweise geht es in diesem Beispiel nur um eine fiktive Geschichte. Die Schülerinnen und Schüler sind Mitglieder des Kurses Darstellendes Spiel der Theodor-Litt-Schule (TLS) und zugleich Teil eines Projekts mit »Wildwasser«, der Beratungsstelle gegen sexuellen Missbrauch.

Gewalt unter Gleichaltrigen

Seit November arbeiten die Oberstufenschüler gemeinsam mit ihrer Lehrerin Aldona Watolla und Beraterin Kathrin Hick von »Wildwasser« an szenischen Darstellungen, die sich intensiv mit dem Thema »Peer-to-Peer«-Gewalt auseinandersetzen. Also mit Gewalt, die unter Gleichaltrigen verübt wird. Das Ergebnis wird ein rund vierminütiges Video sein, das im Februar fertiggestellt sein soll. «Wir hatten bislang noch kein Videomaterial für die Zielgruppe der 14- bis 18-Jährigen«, sagte Hick. »Ein großer Aufgabenbereich von ›Wildwasser‹ ist die Präventionsarbeit an Schulen und Kitas«, erläutert die Beraterin weiter. Mädchen und Jungen werden darin unterstützt, Grenzüberschreitungen und sexuelle Gewalt wahrzunehmen und zu erkennen. Das Video soll zukünftig als guter Einstieg dienen, mit Jugendlichen über das Thema zu sprechen. Auch für die Erwachsenenarbeit - beispielsweise im Rahmen von Fortbildungen und Informationsveranstaltungen - soll das Video verwendet werden. »Es ist wichtig, Erwachsenen klarzumachen, wo pubertierendes Verhalten aufhört und wo sexuelle Gewalt anfängt«, betont Kathrin Hick.

Bei Aldona Watolla, die auch das Tinko-Theater leitet, stieß sie mit ihrer Idee sofort auf offene Ohren. »Es stand schnell fest, dass wir das Projekt gemeinsam mit der 13. Klasse der TLS umsetzen können.« Über mehrere Wochen hinweg trafen sich alle Mitwirkenden regelmäßig auf der Bühne des Tinko-Theaters in der Bleichstraße. Unterstützt wurde das Video-Projekt von der Kleinen Bühne Gießen sowie vom Lions Club Gießen - Burg Gleiberg, der die Finanzierung übernahm. »Besonders freut mich, dass ein ehemaliger Schüler von mir, der mittlerweile studiert, Dreh und Schnitt des ganzen Projektes übernehmen wird«, sagt Aldona Watolla.

Doch bevor es ans Spielen ging, sollten sich die zwölf jungen Leute selbst mit dem Themenkomplex beschäftigen. »Das Video, das wir für die Präventionsarbeit nutzen, war für die Theatergruppe selbst eine Schulung«, berichtet Hick. Die intensive Einarbeitung in das Thema sexualisierte Gewalt gehörte dazu, ebenso sollten sich die Schüler die Gefühlslage von Betroffenen bewusstmachen und Grenzüberschreitungen beobachten. »Die Jugendlichen berichteten dabei auch von Situationen, die sie selbst erlebt hatten und nutzten diese Erfahrungen für das Schreiben des Drehbuches«, schildert Kathrin Hick.

Zugleich kam zur Sprache, dass durchaus auch Jungs Opfer sexualisierter Gewalt durch Gleichaltrige werden können. »Wir haben uns für das Video allerdings ganz bewusst für ein weibliches Opfer entschieden, weil Mädchen doch signifikant häufiger von dieser Art von Gewalt bedroht sind«, weiß die »Wildwasser«-Beraterin.

Darüber hinaus widmete sich die Theatergruppe der Angst und dem Verhalten von Augenzeugen von Gewalt. »Viele, die Gewalt mitbekommen, haben selbst Angst, zum Opfer zu werden, wenn sie eingreifen«, weiß Hick. Oft falle es Jugendlichen zudem schwer, sich Erwachsenen anzuvertrauen, insbesondere wenn kein richtiges Vertrauensverhältnis zu den Eltern oder den Lehrern vorhanden sei. Im Video bekommt die Lehrerin übrigens gar nichts von dem ganzen Unheil mit, das über die Protagonistin Melissa hereinbricht. »Das liegt an der Tatsache, dass ihr Mitschüler Max geschickt dafür gesorgt hat.« Denn Täter planten ihre Taten - Missbrauch passiere nicht einfach nebenbei oder gar zufällig.

Dem Film-Charakter Melissa hilft am Ende eine Freundin. Ihr kann sie sich glücklicherweise anvertrauen. Und gemeinsam gehen sie in eine Beratungsstelle - eine, wie es sie in Gießen zum Beispiel mit »Wildwasser« in der Liebigstraße 13 gibt.

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