Missbrauchsprozess fortgesetzt
Gießen (bcz). Die Wohnung der Angeklagten war wohl eine Art von Zufluchtsort für den damals zehnjährigen Jungen. Dort konnte er mit und ohne seine Freunde abhängen, Zigaretten schnorren oder Computerspiele spielen. Dies bestätigte ein weiterer Zeuge, der jedoch keinen Missbrauch erdulden musste.
»Man hat sich da halt getroffen.« Irgendwann kamen harte Pornos und sexuelle Übergriffe bei ihm dazu, das berichtete der heute 30-Jährige vor der Ersten Großen Strafkammer.
Dem Angeklagten wird der sexuelle Missbrauch von mehreren Kindern in zwei Zeiträumen vorgeworfen: Der eine Tatkomplex spielte sich zwischen 2002 und 2007 ab, weitere Taten werden ihm für das Jahr 2021 vorgeworfen. In dem gestrigen, zweiten Verhandlungstag am Landgericht Gießen ging es nur um die Vergehen innerhalb des ersten Zeitabschnitts. Dazu kamen ein Opfer und einer seiner damaligen Freunde zu Wort.
Der junge Mann, der gestern aussagte, war zu dem Zeitpunkt des ersten Missbrauchs gerade mal zehn Jahre alt. Die unsägliche Beziehung endete erst fünf Jahre später, als seine Familie wegzog. Er selbst stammt aus schwierigen Verhältnissen. Während seine Mutter teilweise zwei Jobs hatte, um die Familie über Wasser zu halten, war sein Stiefvater Alkoholiker. Schläge, Gewalt und Misshandlungen und eine sehr konservative Erziehung musste er erdulden. »Warum das meine Mutter so lange mit diesem Mann ausgehalten hat, das verstehe ich nicht.« Diese Geschichte endete erst, als sein Stiefvater seine Mutter mit fünf Messerstichen lebensgefährlich verletzte. Daraufhin erfolgte die Trennung.
Kennengelernt hatte er den Angeklagten, als er und ein Kumpel bei ihm Zigaretten schnorrten. Daraufhin besuchte er den heute 47-Jährigen immer wieder. Daraus entwickelte sich diese unheilvolle Beziehung. Er besuchte den Anklagten auch noch weiterhin, als sich weitere Freunde von ihm abgewendet hatten und ihn sogar vor dem Angeklagten warnten, weil er irgendetwas machen würde.
Entgegen der Aussage des Angeklagten sagte das Opfer, dass der sexuelle Missbrauch nahezu bei jedem seiner Besuche stattgefunden hätte - entweder vor dem Computer oder vor dem Fernseher, jedenfalls so, dass man davor und währenddessen harte Pornos habe sehen können. »Wir haben bei ihm alles an Pornos gesehen.« Entsprechendes Material konnte die Polizei auch bei der Hausdurchsuchung sicherstellen.
Auf die Rückfrage, dass der Angeklagte die Häufigkeit des Missbrauchs bestritten habe, sagte er: »Dann muss er viele Finger haben.« Auch an einen vermehrten Alkoholgenuss des Angeklagten konnte er sich nicht erinnern. Dies hatte der Angeklagte als Begründung seiner Taten aufgeführt.
Der Missbrauch fand vor allem mit dem heute 30-Jährigen statt und dies immer in der Wohnung des Angeklagten. Ab und zu habe er auch etwas Geld von ihm zugesteckt bekommen, vor seinen Freunden nannte er es »Taschengeld«, da er keines von zuhause bekommen würde. Größere Geschenke habe er jedoch nicht bekommen, das wäre auch zu Hause aufgefallen, was wiederum zu Nachfragen geführt hätte. Beim ersten Mal hätte er sich gedacht: »Wenn ich nicht mitmache, dann lande ich vielleicht in einer Plastiktüte im Wald.« Hinterher sei er ganz froh gewesen, dass »es« nicht so schlimm gewesen sei. Natürlich habe es ein »Schweigeabkommen« zwischen ihm und dem Angeklagten gegeben, sagte er, schließlich habe er nicht gewollt, dass der »Siggi« ins Gefängnis kommt. Anderen Personen habe er sich nicht anvertraut. »Darüber haben wir nicht gesprochen.« Vor anderen, auch vor seiner Mutter, verschleierte er lieber, was sich dort in der Wohnung abspielte. Der Junge besuchte den Angeklagten immer weiter, da ihm dort mehr Verständnis entgegengebracht wurde als zuhause.
Die Übergriffe endeten erst, als der Zeuge wegzog, die Schule wechselte und der Kontakt und die Besuche dadurch erheblich erschwert wurden. Heute sieht er die Geschehnisse wesentlich kritischer als damals.
»Wir waren Kinder und haben uns darüber weniger Gedanken gemacht«, sagte er mit leiser Stimme.