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»Mit dem Rücken an der Wand«

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Mehr als 3800 Personen versorgt die »Tafel Gießen« derzeit mit Lebensmitteln. Die Warteliste ist lang. Foto: Scholz © Scholz

Immer mehr Menschen suchen Unterstützung bei der »Tafel Gießen« Sie versorgt aktuell 3800 Personen mit Lebensmitteln.

Gießen. Anna Conrad und ihr Team von der »Tafel Gießen« sind angespannt. Denn seit Monaten verschärfen Energiepreise, Inflation und der Krieg in der Ukraine auch hierzulande die Situation. »Selbst Aufstocker kommen und berichten, dass sie entscheiden müssen, ob sie den Kühlschrank füllen oder der Mann in der Woche zur Arbeit fahren kann. Ich habe tatsächlich drei Familien gehabt, bei denen die Väter die Jobs gekündigt haben, weil sie den Arbeitsweg nicht mehr finanzieren können. Das wird noch mehr werden«, sagt die Organisationsleiterin im Gespräch mit dieser Zeitung. Die Einrichtung stehe vor großen Herausforderungen. So gelte es unter anderem, den Menschen klar zu machen, dass »wir nur eine unterstützende ehrenamtliche Organisation sind. Wir versorgen nicht, das macht der Staat. Wir unterstützen, irgendwann sind aber auch unsere Grenzen erreicht«, betont Conrad.

110 Haushalte mehr als letztes Jahr

In den vergangenen Monaten habe die »Tafel« bereits Maßnahmen in die Wege geleitet, um mehr Haushalte zu unterstützen. Die Warteliste wachse stetig. Deshalb habe die Einrichtung entschieden, dass »alle, die neu in den Bezug kommen, vierzehntägig Lebensmittel erhalten. Aktuell habe wir eine Warteliste von 530 Familien in Stadt und Außenstellen. Da muss man entscheiden, was man tut, wenn zehn Plätze frei werden. Kann man zehn Familien oder alleinstehende Personen aufnehmen und ihnen wöchentlich Unterstützung anbieten? Oder teilt man die Plätze, damit 20 Familien oder Alleinstehende alle 14 Tage Lebensmittel kriegen?« Diesen Weg gehen Conrad und ihr Team: Alle die, die neu dazukommen, erhalten zweiwöchentlich Lebensmittel. Deshalb und weil die Ehrenamtlichen täglich eine halbe Stunde länger arbeiten, versorgt die Organisation mittlerweile 110 Haushalte mehr als Ende 2021. Über 3800 Menschen sind es derzeit insgesamt.

»Für uns ist momentan kein Ende in Sicht. Das belastet uns natürlich sehr. Noch mehr Personen könnten wir nur durch Anpassung unserer Strukturen unterstützen. Aber genau das ist in unseren Räumen nicht möglich«, erklärt die Leiterin. Dabei sei gerade dies in der derzeitigen Lage dringend notwendig. Hohe Benzinpreise, und Nebenkostenabrechnungen seien eine Seite des Problems. Andererseits hielten viele Menschen, die bereits Unterstützung durch die »Tafel« haben, an den Plätzen fest. Das sei eine Entwicklung, die jahrelang anders gewesen sei. »Die Leute kommen viel intensiver, weil sie es dringend brauchen. Das, was wir als Fluktuation bezeichnet haben, ist geringer geworden. Das verhindert wiederum, dass wir Neue aufnehmen können.«

Mehr Rentner und Geringverdiener

Nach wie vor verzeichne das Team sehr viele aus der Ukraine geflüchtete Personen unter denen, die Unterstützung suchten. »Seit Ausbruch des Krieges haben wir mehr als 3000 Personen mit unseren Notfallmaßnahmen versorgt. Aber auch von ihnen melden sich Menschen für den Bezug. Das macht tatsächlich mehr als die Hälfte unserer wartenden Personen aus.« Seit einigen Monaten kämen zudem weit mehr Rentner, Geringverdiener oder Studenten. Und es werde immer schwieriger, Menschen abzulehnen. Das löse auch bei den Ehrenamtlichen sehr ungute Gefühle aus. »Wie lang kann ich die Warteliste noch werden lassen, bevor ich einen Stopp einrichten muss? Wie gehe ich dann damit um, wenn ich Menschen gar keine Perspektive bieten kann? Was macht das mit uns, wenn wir sagen, dass niemand zusätzlich eine Chance hat?« Man merke die Verzweiflung der Menschen, die wiederum zu Aggressionen und Unverständnis führe. »Wir stehen im Moment mit dem Rücken an der Wand. Die Zahl der Ehrenamtlichen ist rückläufig. Wir sind in einer Abwärtsspirale.« Sie sei entstanden, weil einige Mitarbeiter eine Coronapause eingelegt hätten und nicht zurückkehrten. Andere, die wegen Corona gekommen seien, gingen nun wieder regulär zur Arbeit. »Dadurch haben wir Schwierigkeiten, unsere Dienste aufrechtzuhalten.« Die Lebensmittelmenge sei rückgängig. Es sei zwar denkbar, direkt an Produzenten heranzutreten. Das Problem sei, dass sie größere Mengen abgeben wollten und »dafür haben wir nicht die Lagerkapazitäten.«

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