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Mit frischer Beute im Notizbuch

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Bestattungswälder wie dieser lösen mehr und mehr die hoch individualisierten Begräbnisstätten des bürgerlichen Zeitalters ab. Foto: dpa © dpa

Unser absurder Alltag: Götz Eisenberg widmet sich diesmal der Geschichte einer Kolumne und den Bestattungsritualen einst und heute.

Ein Blick in das Archiv meiner Texte zeigt, dass ziemlich genau vor fünf Jahren die erste meiner Kolumnen im Gießener Anzeiger erschienen ist. Seit dem Sommer 2018 erhielten diese monatlich erscheinenden Texte die Überschrift »Unser absurder Alltag«. Von Anfang an richtete ich mein Hauptaugenmerk auf Phänomene des Alltagslebens und unsere städtische Umgebung. In Wilhelm Genazinos Buch »Der Traum des Beobachters«, das aus dem Nachlass zusammengestellt wurde, stieß ich neulich auf folgenden Eintrag: »Technik des Schreibens: eine Beobachtung machen, im Augenblick der Ins-Werk-Setzung der Beobachtung die beobachtete Sache schon als Text sehen und sie als Beute (und die Beute als Jux) wegtragen. Deswegen oft gute Laune.« So oder so ähnlich funktioniert das bei mir auch. Ich beobachte unterwegs etwas, und während ich noch beobachte, beginnt bereits der Versuch, die Beobachtung in Sprache zu fassen und festzuhalten.

Wie Genazino trage auch ich stets ein kleines Notizbuch bei mir, in dem ich flüchtige Gedanken und Stichworte festhalte. Auch bei mir stellt sich das Gefühl einer kleinen Befriedigung ein, wenn ich »Beute« gemacht habe. Das hat eine kleine zwanghafte Komponente, wie ich gern zugebe: Nichts von Belang darf unbeschrieben liegen bleiben, alles muss sprachlich gefasst und festgehalten, gewissermaßen gebannt werden. Unbearbeitetes Erfahrungsmaterial wirkt als Irritation; es bildet Staubflusen, die sich an den Rändern des Bewusstseins ablagern. Auch Annie Ernaux kennt dieses Phänomen und hat es so beschrieben: »Wenn ich Dinge nicht aufschreibe, sind sie nicht zu ihrem Ende gekommen, sondern wurden nur erlebt.«

Einen Moment überlegte ich, ob fünf Jahre nicht reichen und ich die Kolumne einstellen sollte. Auf dem Weg in die Stadt trat dann aber eine ältere Dame auf mich zu und fragte, wann denn endlich mal wieder etwas von mir im Anzeiger zu lesen wäre. Sie freue sich darauf und lese meine Texte gern. Da wusste ich: Solange es den Anzeiger und seine Leserinnen und Leser gibt, werde ich fortfahren, meine Beobachtungen aus dem städtischen Alltag aufzuschreiben und einem kleinen, aber sehr treuen Publikum mitzuteilen.

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Alte Friedhöfe gleichen Steinbrüchen. Manche Gedenk- und Grabsteine sind derart verwittert, dass man ihre Inschriften kaum noch entziffern kann. Auf dem Alten Friedhof fiel vor ein paar Tagen mein Blick im Vorübergehen auf einen Grabstein, auf dem ich las: Robert von Schlagintiveil. Weil der Name sich mir als besonders eingeprägt hatte, gab ich ihn zu Hause in eine Suchmaschine ein und erfuhr, dass es sich um Robert von Schlagintweit handeln musste. Ein Forscher, der Mitte des 19. Jahrhunderts Indien und den Himalaya bereiste, was zu dieser Zeit ein ungeheures Abenteuer gewesen sein muss. 1864 erhielt er die erste Professur für Geographie an der Gießener Universität. Er starb 1885 und wurde auf dem Alten Friedhof beigesetzt.

Unten auf dem Grabstein steht: Friede seiner Asche. Daraus schließe ich, dass Robert von Schlagintweit sich hatte einäschern lassen, was damals noch ausgesprochen selten war. Genauer gesagt war es eine Spezialität von Sozialdemokraten und anderen Freidenkern, die nicht an die Wiederauferstehung glaubten und diese Form der Beisetzung für ökonomischer und vor allem hygienischer hielten. Die erste Feuerbestattung in Deutschland fand 1874 in der städtischen Gasanstalt in Breslau statt. Gerade mal elf Jahre später ließ Robert von Schlagintweit seinen Leichnam einäschern. Ein Pionier der Feuerbestattung, kann man sagen, und trotz seiner adligen Herkunft höchstwahrscheinlich ein fortschrittlicher Mensch. Oder sollte man sagen: Ein Mensch, der mit der Zeit geht oder ihr vorangeht.

Der Trend, seinen Leichnam verbrennen und in einer Urne bestatten zu lassen, markiert auch einen Anonymisierungsschub. Ernst Jünger, der in diesen Dingen ein genauer Beobachter war, erblickte im Drang, sich verbrennen zu lassen, einen nihilistischen Zug. Im Kasseler Museum für Sepulkralkultur bekommt man vorgeführt, wie das bürgerliche Zeitalter mit seinem Kult des Individuums seinen Ausdruck auch in der Gestaltung der Grabstätten findet. Die alten Gebeinhäuser, in denen die Skelette und Knochen übereinandergehäuft aufbewahrt wurden, wurden abgelöst von individualisierten Grabanlagen mit ihren Stelen und Obelisken.

Jedes Subjekt wird für sich beigesetzt, und auf dem Grabstein prangt für alle Zeiten der Name des Verstorbenen, häufig noch verbunden mit Angaben zur Person und ihrer Bedeutung. Ganz anders ist das in den neuen Bestattungswäldern, wo fünf bis sechs Urnen um einen Baum herum vergraben werden. Lediglich ein winziges Schild, das an den Baum geschraubt wird, verweist auf die dort Bestatteten, der exakte Ort ist schon bald nicht mehr erkennbar. Der epochale Unterschied springt mir jeden Mal ins Auge, wenn ich über den Alten Friedhof gehe und staunend vor den hoch-individualisierten Begräbnisstätten des bürgerlichen Zeitalters stehe.

Auch auf dem Alten Friedhof gibt es inzwischen vereinzelte Bohrlöcher, in denen man Urnen versenkt hat. Sie werden oben mit einer steinernen Platte verschlossen, die die Größe eines Buches aufweist und auf der der Name des Verstorbenen und seine Lebensdaten festgehalten sind. Das markiert eine Übergangsform zur gänzlichen Anonymität. Eine Gesellschaft gibt sich auch in den Formen zu erkennen, wie sie mit ihren Toten verfährt. Noch im Tod und über ihn hinaus bekommen die Mitglieder der spätkapitalistischen Gesellschaften mitgeteilt, dass sie herabgesetzt sind zu bloßen Funktionen innerhalb einer riesigen gesellschaftlichen Maschinerie, die auch ohne sie auskommt und weiterläuft.

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Heute musste ich die Bank aufsuchen, um eine Überweisung zu tätigen. Das ist leichter gesagt als getan. Die letzten Jahre habe ich unter Mühen gelernt, an Automaten Geld abzuheben und Überweisungen vorzunehmen. Kaum hatte ich die Technik einigermaßen kapiert, werden die Automaten durch neuere ersetzt. Sie bestehen nur noch aus einem großem Touchscreen, der auf Berührung reagiert. Bei meinem letzten Besuch schlug mich der Bildschirm in die Flucht - Ich griff zu einem Überweisungsformular. Beim Rausgehen sah ich eine alte Dame, die genauso verstört umherirrte wie ich. Auch sie verstand die Welt nicht mehr, die sich in einem immer rasanteren Tempo ändert. Wie sollen wir da mitkommen? Irgendwann ist unsere Fähigkeit, Neues aufzunehmen erschöpft. Sollten wir uns nicht irgendwann einmal aufraffen und den ganzen verselbständigten Wahnsinn stoppen und wieder auf menschliche Maße zurückführen?

Der Gießener Götz Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitet an einer »Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus«, deren dritter Band den Titel »Zwischen Anarchismus und Populismus« trägt. Foto: Polkowski

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gikult_goetz_290122_4c_14 © Red

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