Mit »Hundemarken« um den Hals

Angesichts des Krieges in der Ukraine fühlt sich die Gießenerin Waltraud Frischholz an ihre Flucht aus Ostpreußen erinnert.
Gießen. Wenn Waltraud Frischholz in diesen Tagen das Fernsehgerät einschaltet und die Bilder vom Krieg in der Ukraine, die Kämpfe, zerstörte Häuser und flüchtende Menschen sieht, kommen schmerzliche Erinnerungen an ihre Kindheit auf, die auch von der Flucht aus der Heimat geprägt war.
Geboren wurde sie in Wensowken bei Angerburg in Ostpreußen als Waltraud Schack im Haus der Oma. Ihr Vater verbrachte sehr viel Zeit mit den Kindern, erinnert sie sich gerne. Besonders stolz war er auf die beiden Töchter, die wie Zwillinge aussahen. Als Reichsbahner besuchte er oft Lehrgänge und die Familie nutzte die kostenlosen Bahnfahrten, um ihn zu besuchen. Eines Tages war die Familie im Ostseehafen Pillau, wo der Vater ihr die »Wilhelm Gustloff« zeigte. »Ein riesiges Schiff, vor dem wir uns so klein vorkamen«, zeigt sich die Seniorin heute noch beeindruckt.
Im Winter fielen große Mengen von Schnee, im Garten baute der Vater ein Iglu und die Kinder hatten ihre Freude. Zum Schulalltag zählte das Üben des Hitlergrußes, am Geburtstag des Führers erhielten die Bewohner des Dorfes in einem großen Zelt heiße Erbsensuppe. Eines Tages weckte der Vater die Familie, stellte sich an das Fenster und deutete an den Himmel: »Das sind unsere Bomber, die fliegen nach Russland«. Es dröhnte am Himmel und die Luft vibrierte, Angst kroch den Mädchen in die Knochen. Ein Erlebnis, das sie heute noch vor Augen hat. Hinter dem Garten arbeiteten Gefangene auf dem Feld. Sie schnitzten Spielsachen für die Kinder und schenkten sie ihnen, wenn sie hinter dem Zaun hervorschauten.
1943 endete die Schule für Waltraud in der zweiten Klasse, aus der Schule wurde ein Lazarett. Die Kinder standen an der Straße, wenn die Trecks vorbeizogen. Menschen und Tiere, die voll bepackte Leiterwagen mit Enten, Hühnern, Gänsen und Schweinen in Käfigen und Verschlägen auf der Ladefläche zogen. Pferde und Kühe liefen hinterher. In dem Pulk der Menschenmassen waren auch Kriegsverletzte, denen es auf Holzkrücken besonders schwer fiel, den Anschluss zu halten.
Bevor Waltrauds Vater zum Militär eingezogen wurden, fertigte er für die Familie breite Ledergürtel an, an denen Kochgeschirr mit Messer, Gabel und Löffel hingen. Um den Hals trugen Mutter und Kinder »Hundemarken« mit ihren Namen. »Falls wir verloren gingen«, wusste das Kind schon damals. Das war die Vorbereitung für die Flucht aus der Heimat. Die Mutter war schwanger und sollte mit den Kindern mit der »Gustloff« - das Schiff, auf dem 10 000 Menschen nach der Torpedierung starben - nach Dänemark fahren. Doch es kam anders, Mutter und Kinder fanden keinen Platz mehr an Bord. »Welch ein Glück«, schaut die alte Dame heute dankbar zurück. Die Flüchtenden wichen auf die Bahn aus und eine schier unendliche Odyssee begann. Sie endete vorläufig in der Nähe von Stettin. Die Mutter entband am 12. Januar 1945 ihren Sohn Dietmar. Die Front rückte immer näher, die Geflüchteten wohnten in einem Zimmer unter dem Dach. Einziger Trost: Die aufnehmenden Gastgeber waren nett und teilten mit den unfreiwilligen Gästen alles, was sie hatten. Als Selbstversorger gehörte ihnen eine Kuh, ein Schwein sowie Hühner und Gänse.
Nottaufe für den Bruder
Die Flucht ging weiter, auf einem Gut fanden die vier Flüchtlinge einen Unterschlupf, wo in einer Feldscheune viele Menschen kampierten. Der Bruder von Waltraud erhielt die Nottaufe durch Gutsfrau von der Marwitz. Russische Soldaten kamen täglich in die Scheune, holten Frauen heraus und vergewaltigten sie. Eine furchtbare Situation für das kleine Mädchen und ihre Schwester. »Meine Mutter hielt mir die Augen zu, aber ich konnte trotzdem das grauenhafte Geschehen sehen«, blieben brutalen Bilder bis heute im Gedächtnis. Der Atem stockte Waltraud, als ein baumstarker Kerl plötzlich ihren Bruder auf dem Arm hatte. Sie biss ihn, kratzte ihn, trat mit den Füßen, doch das beeindruckte den Riesen nicht. Die Befreiungsverssuche der Mutter schlugen fehl, doch der Mann beruhigte sie und sagte, er habe auch ein Baby zu Hause. Tags darauf lagen weiße Kittel und Essen vor der Tür: Der Fremde war Koch und wollte, dass die Mutter seine Kleidung wusch. Das tat sie dann auch ohne Murren. Unterwegs auf der weiteren Flucht weichten die Pappräder des Kinderwagens auf, er wurde auf einen Schlitten geschnallt.
In schmutzigen Güterwagen ging es weiter über Rostock und der Transport erreichte Bad Segeberg. Dort mussten die Flüchtlinge ihre Fingerabdrücke abgeben. Die weitere Fahrt endete auf der Insel Sylt in einem Barackenlager in »Dikjen Deel«. Dort lebten einige hundert Menschen, weshalb Sylt in dieser Zeit »Insel der 12 000 Armen« genannt wurde. Der erste Flüchtlingstransport auf der heutigen Nobelinsel kam am 24. Februar 1945 dort an. 18 Flüchtlingslager zeigt die Skizze, die Waltraud Frischholz in ihren Aufzeichnungen aufbewahrt. 100 Zimmer befanden sich im Kasernenblock in Hörnum, pro Familie bis zu neun Personen lebten in einem Zimmer. Oft hätten sie tagelang im Bett gelegen, vor Erschöpfung und ohne Kraft, weiß die Seniorin heute noch. Ab und zu erhielten sie ein Stück Maisbrot und Pferdewurst. Die Flüchtlinge hatten großen Hunger und ernährten sich von Stockschwämmchen, Moosbeeren und Hagebutten. Durch die Ernährung mit Fisch seien sie wieder zu Kräften gekommen, weiß Waltraud Frischholz.
Maisbrot und Pferdewurst
Mit Vehemenz versuchte ihre Mutter ihren Mann zu finden. Über Suchdienste und sogar einen Wahrsager wollte sie Kontakte herstellen, kehrte enttäuscht aus Solingen zurück, wo sie ein Lebenszeichen vermutete. »Der Krieg hat meine Mutter hart gemacht, sie hat uns nie in den Arm genommen oder getröstet. Vermutlich war sie dazu nicht in der Lage«, vermutet die Wahl-Gießenerin heute.
Mit 14 Jahren endete ihre Schulzeit, in Eimbühren in Schleswig-Holstein arbeitete sie in einer Molkerei und im Haushalt. Eine schwere Arbeit, Butter und Käse zu machen, schwere Käselaibe mit Salzlauge wischen und wenden. Hinzu kam großes Heimweh. Mittlerweile wurde der Vater nach einer Suche von acht Jahren gefunden, er lebte und arbeitete in Gießen. Doch er war sehr krank und starb drei Jahre nach der Familienzusammenführung.
Waldtraud kam mit 16 Jahren nach Gießen, wo sie seitdem lebt. Sie fühlt sich hier wohl und ist täglich mit ihrem Lebenspartner unterwegs, um frische Luft zu schnappen. Sie hofft, dass die schlimmen Erlebnisse, die ein Teil ihres Lebens prägten, in dieser Form nie wieder vorkommen. »Dass der Krieg mit Flucht, Elend und Tod uns nie erreicht«, ist ihr Wunsch für die Zukunft.