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»Mit ihrem Schicksal alleingelassen«

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Von: Benjamin Lemper

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In den Trümmern zerstörter Häuser - wie hier in Gaziantep - geht die Suche nach Überlebenden der Erdbebenkatastrophe unvermindert weiter. Foto: Mustafa Karali/AP/dpa © Mustafa Karali/AP/dpa

Mehmet Tanriverdi aus Gießen übt heftige Kritik an der schleppenden Hilfe im Erdbebengebiet, an nicht behobenen Baumängeln und unbrauchbaren Geräten. Betroffen seien besonders viele Kurden.

Gießen. Auch zwei Tage nach den schweren Erdbeben in der Türkei und in Syrien steigt die Zahl der Toten stetig weiter. Betroffen von dieser verheerenden Naturkatastrophe seien hauptsächlich Kurden, betont Mehmet Tanriverdi, stellvertretender Vorsitzender der Kurdischen Gemeinde Deutschland, die ihren Sitz in Gießen hat. »Die Provinzstädte im türkischen Teil der kurdischen Region Gaziantep, Maras und Adiyaman, sowie im syrischen Teil von Afrin bis Aleppo werden vor allem von Kurden bewohnt«, so der Gießener Unternehmer im Interview mit dem Anzeiger. Die meisten Toten und Verletzten seien in den Kreisstädten Pazarcik und Elbistan in der Provinz Maras zu beklagen. Ebenso schlimm sehe die Situation in Adiyaman und Islahya, einer Grenzstadt zu Syrien, aus. Gleichzeitig erhebt Tanriverdi heftige Vorwürfe: Es finde keine koordinierte Hilfe statt, der türkische Staat lasse die Menschen im Stich, Einsatzgeräte seien unbrauchbar und bekannte Baumängel von den Aufsichtsbehörden nicht behoben worden.

Welche Kenntnisse haben Sie von der aktuellen Lage in den Erdbebengebieten?

Vor allem in den von Kurden und Aleviten bewohnten Regionen, die mitten im Epizentrum des Erdbebens liegen, sind die Zustände katastrophal. Hier sind die meisten Erdbebenopfer und die größte Zerstörung zu beklagen. Es fehlt vielerorts an jeglicher Unterstützung durch die Katastrophenhilfe und -helfer, die bisher absolut unzureichend dorthin beordert worden sind - wenn überhaupt Hilfe angelaufen ist. Tausende und Abertausende Menschen harren noch viele Stunden nach den Erdbeben unter den Trümmern unzähliger Gebäude aus.

Was gibt es sonst noch für Hindernisse?

Das kalte Wetter und die mangelnden Zugänge in diese am stärksten betroffenen Gebiete tragen ebenso zu diesen miserablen Bedingungen bei. Eine koordinierte Hilfe findet nicht statt. Bisher sind die Menschen nur auf sich angewiesen und versuchen, mit bloßen Händen ihre verschütteten Angehörigen zu retten. Es sind leider sehr hohe Opferzahlen zu befürchten. Laut unseren Informationen hat auch die internationale Hilfe, die in Adana ankommt und von der türkischen Seite gesteuert wird, die betroffenen Regionen und die Menschen bis jetzt nicht erreicht.

Wie beurteilen Sie die Versorgungslage?

Es fehlt den Menschen an Strom, Wasser, Gas, Medizin, Nahrungsmitteln, Kleidung, Betten, Zelten und einfachsten technischen Hilfsmitteln, die kurzfristig für das Überleben unerlässlich sind. Vielerorts sind die Straßen gesperrt oder unzureichend passierbar. Eine Unterstützung auf dem Luft- oder Wasserweg findet aus nicht nachvollziehbaren Gründen nur unzureichend statt. Seit Dienstag haben die türkischen Behörden über die betroffenen Gebiete den Ausnahmezustand verhängt. Das bedeutet, dass zivile Hilfe die Gebiete gar nicht erreicht. Daher befürchten wir, dass die Betroffenen mit ihrem Schicksal allein gelassen werden und das manche sich auf Kosten der Opfer auch noch bereichern.

Wie gut kommt die Bergung von verschütteten Frauen, Männern und Kindern voran?

Das verläuft sehr schleppend. Es fehlt überall an gut geschultem Bergungspersonal und Bergungsgerät. Die wenigen Helferinnen und Helfer sind übermüdet und erschöpft. Nicht selten sind auch die Einsatzgeräte technisch defekt und daher unbrauchbar. Vor dem Hintergrund der winterlichen Bedingungen und der eisigen Kälte kommt die erwartete und zumutbare Bergung viel zu langsam voran. Die Bevölkerung ist mehr oder weniger auf sich allein gestellt und Opfer dieser katastrophalen Hilfsaktion durch den türkischen Staat. Die Angehörigen der verschütteten Menschen tragen am meisten selbst dazu bei, ihre Verwandten soweit es geht zu retten.

Wie geht es den Menschen vor Ort?

Die Menschen sind verzweifelt, da keine koordinierten und realisierbaren Schutz- und Hilfsmaßnahmen ausreichend angeboten werden. Sie haben alles verloren, ihre Familien, Häuser, Arbeitsstätten. Es fehlt zudem an jeglicher medizinischen Hilfe oder psychologischer Betreuung der Opferfamilien. Diese suchen die Hilfe und die Obhut einzig bei ihren Verwandten und Familienangehörigen.

Welche Hilfe wird denn am dringendsten gebraucht?

Da in der Region winterliche Verhältnisse herrschen, brauchen die Menschen, die obdachlos geworden sind, in erster Linie Decken, Zelte und Nahrungsmittel sowie medizinische Versorgung. Hunderttausende sind obdachlos geworden, die Zahl der Verletzten liegt bei fast 50 000.

Woran liegt es eigentlich, dass so viele Gebäude einstürzen?

Das ist in der Tat ein Problem. Wenn man sich die Luftbilder anschaut, sind zum Beispiel in der Region Maras Hochhäuser wie Kartenhäuser zusammengefallen. Das hat hauptsächlich mit Baumängeln zu tun, die die Firmen zu verantworten haben. Die Hauptverantwortung tragen aber die Bauaufsichtsbehörden, das heißt der türkische Staat. Denn diese Praxis ist bekannt. Das passiert nicht zum ersten Mal.

Auch die Kurdische Gemeinde Deutschland e.V hat ein Spendenkonto eingerichtet. Die Gelder sollen vor Ort eingesetzt werden, um den Betroffenen direkt zu helfen: IBAN: DE64 3705 0299 0000 4166 52, Stichwort: Erdbeben Soforthilfe.

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