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Mit »penibler Gründlichkeit«

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Im Auftrag des Landkreises Marburg-Biedenkopf hat Marcel Spannenberger eine Studie zur NS-Belastung der Führungsspitze der Landratsämter während der NS-Zeit vorgelegt.

Marburg. Bei der Verfolgung und Deportation der jüdischen Bevölkerung sowie der Sinti und Roma haben die politischen Führungskräfte in den Kreisen Marburg und Biedenkopf eine »penible Gründlichkeit an den Tag gelegt«. Zu diesem Ergebnis kommt der Marburger Historiker Marcel Spannenberger. Im Auftrag des Landkreises Marburg-Biedenkopf hat er eine 200 Seiten starke Studie zur NS-Belastung der Führungsspitze der Landratsämter Marburg und Biedenkopf während der NS-Zeit vorgelegt. Dabei wird deutlich, dass die Kreisspitze in hohem Maß am Verfolgungsterror des Regimes beteiligt war.

»Acht Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zeigt die Studie von Marcel Spannenberger, dass die Verbrechen des Nationalsozialismus noch immer nicht umfassend aufgearbeitet sind«, sagt Prof. Eckhart Conze von der Marburger Philipps-Universität. Der Landkreis Marburg-Biedenkopf hat die Studie angeregt und sowohl finanziell als auch durch die Vermittlung von Akten, Informationen und Ansprechpartnern unterstützt. Damit solle möglichst viel Licht in die Aufarbeitung dieser Zeit gebracht werden, betonte der Erste Kreisbeigeordnete Marian Zachow.

Vier Landräte und zahlreiche weitere Spitzenbeamte hat Spannenberger in seiner Studie unter die Lupe genommen. Ein besonders auffälliges Beispiel ist Hans Krawielitzki (1900-1992), der mächtigste politische Akteur im Marburger Landratsamt. Der gescheiterte Jurastudent löste 1934 den konservativen Verwaltungsjuristen Ernst Schwebel als Landrat ab und blieb es bis 1945. Er galt als »alter Kämpfer«, weil er schon 1927 in die NSDAP eingetreten war, hatte ein Gespür für Propaganda und ein Talent für bürokratische Organisation.

Schon 1920 hatte er sich als Freiwilliger des Marburger Studentenbataillons an der Niederwerfung des kommunistischen Aufstands in Thüringen beteiligt. Spätestens ab 1928, als er ohne Hochschulabschluss nach acht Jahren Studium exmatrikuliert wurde, widmete er sich der Partei in Vollzeit.

Spannenberger beschreibt Krawielitzki als sehr gut vernetzten Politiker, der nahezu alle NS-Größen für Wahlkampfauftritte nach Marburg holte. So sprach Adolf Hitler an seinem Geburtstag am 20. April 1932 in der Universitätsstadt. Umjubelt war der Besuch von Hermann Göring, der ein gutes Jahr später nach Marburg kam. 1933 zog Krawielitzki für die NSDAP in den Stadtverordnetenversammlung ein, war von 1934 bis 1945 Ratsherr und ab November 1933 Reichstagsmitglied.

Höhepunkt seines Lebenslaufs war jedoch die Ernennung zum Landrat. Aufgrund seiner Verdienste für die Partei war er im Gegensatz zu seinem Vorgänger nahezu unangreifbar. Zudem verstand er sich als »ein dezidiert nationalsozialistischer Landrat«, wie Spannenberger schreibt. So gelobte Krawielitzki bei seiner offiziellen Amtseinführung: »Wenn ich als Nationalsozialist diesen Kreis verwalten werde, so soll zu jeder Zeit der Wille des Führers erfüllt werden.« Wiederholt ging er gemeinsam mit seinem Führungspersonal gegen Menschen vor, die »kommunistischer Umtriebe« oder einer politisch nonkonformen Haltung verdächtigt wurden. Nur im »Kirchenkampf« vertrat er als Pfarrerssohn eine relativ gemäßigt Linie.

Eine zentrale Rolle spielte das Führungspersonal um Krawielitzki bei der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung. Der Landrat forcierte die »Arisierung« jüdischen Grundbesitzes. Zur ersten Deportation aus dem Kreis am 8. Dezember 1941 ist eine vertrauliche Verfügung an den Bürgermeister von Kirchhain von Krawielitzkis Stellvertreter Ludwig Seufer überliefert. Danach sollten alle Juden der Gemeinde namentlich angegeben werden: »Die Kinder, die dort noch wohnhaft sind, dürfen unter keinen Umständen vergessen werden«, heißt es darin. Das Ziel: Verlässliche Zahlen zur Weitergabe an die Gestapo. Zugleich sorgte er zusammen mit den Bürgermeistern für den reibungslosen Ablauf. So seien die zurückgelassenen Vermögenswerte der Deportierten sicherzustellen und die Wohnungsschlüssel in Verwahrung zu nehmen. Weiter hieß es, dass bei der polizeilichen Abmeldung in den Melderegistern »nicht der Zielort, sondern lediglich ›unbekannt verzogen‹ anzuführen« sei.

Drei Jahre und sechs Monate Gefängnis

Am 3. August 1943 berichtete Krawielitzki, dass die Gemeinden Schweinsberg und Mardorf jetzt auch »judenfrei« seien. Die Judenfamilien aus diesen Gemeinden seien nun gemeinsam in Rauischholzhausen untergebracht, wodurch man die Juden besser kontrollieren könne. Auch bei der dritten Deportation am 6. September 1942 gab es detaillierte Handlungsanweisungen, etwa für bettlägerige Juden, die mit einem geeigneten Fahrzeug an die Bahn gebracht werden sollten: »Die Kosten hierfür tragen die Juden«, so das Landratsamt.

Auf knapp 200 Seiten fasst er seine Recherchen zu den führenden Akteuren der Landratsämter Marburg und Biedenkopf zusammen, unter denen Krawielitzki das gravierendste Beispiel ist. Der NS-Landrat wurde übrigens 1948 zu einer Gefängnisstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Ab dann blieb er politisch zurückhaltend, wenngleich er regelmäßig an Altnazi-Treffen in Cölbe teilnahm.

Die Studie mit dem Titel »Das Führungspersonal der Landratsämter Marburg und Biedenkopf in der NS-Zeit« ist ab sofort online unter www.marburg-biedenkopf.de zu lesen (unter »Kultur«, dann unter »Geschichte«).

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