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Mit Straßenkreide gegen sexuelle Belästigung

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Mit Straßenkreide wird auf die übergriffigen Sprüche oder Taten aufmerksam gemacht. Foto: Kremer © Kremer

»Plötzlich umarmte er mich fest und gab mir einen Kuss auf die Brust« - das ist einer von vielen Erfahrungsberichten, mit denen »CatcallsOfGießen« Belästigungen in Gießen anprangert.

Gießen . Wer regelmäßig durch die Gießener Innenstadt läuft, ist sicherlich schon das eine oder andere Mal über die Sprüche gestolpert, die mit bunter Kreide auf dem Boden geschrieben stehen. »Plötzlich umarmte er mich fest und gab mir einen Kuss auf die Brust«, konnte man zum Beispiel am Marktplatz lesen. Oder: »Ich wurde von fünf Typen aus einem Auto laut angebellt« in der Bahnhofsstraße. Dahinter verbirgt sich das Projekt »CatcallsOfGießen«. Der Begriff »Catcalling« beschreibt die sexuelle Belästigung von Frauen im öffentlichen Raum. Das kann sich in hupen, hinterherrufen, pfeifen oder anderen verbalen Aufdringlichkeiten äußern.

»Wir von ›CatcallsOfGießen‹ haben für diese Belästigungen, die hier in Gießen stattfinden, ein Gehör und bringen sie auf die Straße«, erklärt Jeanette, die sich seit September 2020 für den Verein engagiert. Dazu schreiben sie und ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter die Erfahrungsberichte, die ihnen täglich über Instagram zugeschickt werden, mit Kreide an genau dem Ort auf, wo die Belästigung stattgefunden hat. Darunter steht immer der Hashtag #stopptbelästigung.

Sie wollen damit sichtbar machen, wie alltäglich Belästigungen sind. In der Situation selbst seien viele Opfer nicht in der Lage, sich zu wehren - auch weil es oft zu schnell gehe. Die Gruppe will diesen Menschen »nachträglich eine Stimme geben und klarmachen: Das ist nicht okay«, erklärt die 24-Jährige.

Per Definition ist »Catcalling« die sexuelle Belästigung von Frauen. Aber: »Wir möchten auch betroffenen Männern eine Stimme geben, weil ›Catcalling‹ eben nicht nur Frauen betrifft«, stellt Jeanette klar. Auch rassistisch motivierte Anfeindungen oder Übergriffe gegenüber queeren Menschen finden bei ihnen Gehör.

Belästigungen könnten »für einen Mann noch mal anders schambehaftet sein, als für eine Frau«. Frauen werde häufig gesagt, sie sollten es als Kompliment nehmen oder weglächeln, wenn ihnen hinterhergerufen wird. Männer müssten dagegen eher noch Angst haben, dass man sich über sie lustig macht oder dass ihre negativen Emotionen, die sie eventuell in der Situation verspürt haben, nicht ernst genommen werden.

Oft trauen sich Frauen nicht, von ihren Erfahrungen zu berichten, weil sie Angst haben, von der Opfer- in die Täterrolle gedrängt zu werden. Fragen wie »Was hattest du denn an?« oder »Warum läufst du auch nachts alleine rum?« suggerieren den Opfern, sie hätten Schuld. »Das stimmt natürlich nicht. Und deshalb ist es auch so wichtig, das auf die Straße zu bringen«, betont Jeanette.

Mehr als 2500 Abonnenten hat die Initiative mittlerweile auf Instagram. Weltweit gibt es über 280 »CatcallsOf…"-Gruppen, in Deutschland sind es derzeit 119. Noch vor zwei Jahren waren es bundesweit erst 67. Durch die nationale Vernetzung konnte im Juni auch ein erstes Buch herausgebracht werden, in dem sogar ein »Catcall« aus Gießen zu finden ist.

2020 waren es bis zu acht Nachrichten, die täglich auf dem Instagram-Account eingingen, während der Pandemie hat das etwas abgenommen. »Durch Corona gab es einfach weniger Möglichkeiten. Wir gehen aber stark davon aus, dass das wieder zunimmt«, sagt Jeanette. Erfahrungsgemäß würden die Zahlen im Sommer immer ansteigen und auch durch die Cluböffnungen werde es wahrscheinlich wieder mehr Belästigungen im öffentlichen Raum geben.

Trotzdem sei die Annahme, dass »Catcalling« nur in Kombination mit Clubs und Alkohol entstehe, falsch. Denn obwohl es Hotspots, wie zum Beispiel den Bahnhof, den Marktplatz oder den Seltersweg, gibt: »Catcalling« passiert »mitten am Tag und mitten im Nirgendwo. Es kann einem genauso beim Joggen im Bergwerkswald passieren, wie auch nachts auf dem Heimweg durch die Ludwigstraße«.

Eine Auslese der Berichte nimmt die Gruppe nicht vor. »Wir schreiben alles auf. Egal, von wem das kommt und was das ist, weil wir sagen: Das ist immer im Ermessen des Opfers. Ob da jemand übergriffig war, ob eine Grenze überschritten wurde, können wir von außen nicht beurteilen.«

Außerdem sei es sinnvoll, wenn Leute über einen »Catcall« stolpern, den sie persönlich als »weniger schlimm« empfinden, erläutert die Gießenerin: »Das ist auch ein gutes Mittel, finden wir, um über das eigene Verhalten nachzudenken und immer noch mal zu reflektieren, dass jeder andere Grenzen hat.«

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