Neue Freiheit im fremden Land

Der Russe Maxim Nekulcha will nicht für ein Land kämpfen, das Menschen wie ihn hasst. Zurzeit lebt er in Gießen und erzählt hier seine Geschichte.
Gießen . Am 5. Dezember 2022 unterzeichnet der russische Präsident Wladimir Putin ein weiteres Gesetz gegen die »LGBTQ-Propaganda«, die seiner Auffassung nach die russischen Werte untergräbt. Das neue Gesetz verschärft das seit 2013 geltende Verbot der »Förderung nicht-traditioneller sexueller Beziehungen«. Bezog sich das alte Gesetz noch auf Minderjährige, wird dieses Verbot nun auf Erwachsene ausgeweitet und erstmals ausdrücklich für Medien, Internet, Literatur, Kino oder Werbung ausformuliert. An jenem Montag hat der Herrscher im Kreml in seinem obsessiven Kampf gegen das verhasste »Gayropa« zwar eine »Schlacht« gewonnen - aber Russland einen Bürger mehr verloren.
Denn an diesem Tag erkennt Maxim Nekulcha aus Sankt Petersburg, dass sein Vaterland nichts mehr von den Söhnen wissen will, die sich nichts aus Mädchen machen. Er bricht mit »Mütterchen Russland«. Knapp zehn Monate nach dem Angriff auf die Ukraine ist das nur eine erneute Bestätigung, besser in den Westen zu flüchten - drei Vorladungen, sich im Kriegskommissariat seiner Heimatstadt zu melden, geben dann den letzten Anstoß.
Maxim hat Glück, weil eine seiner Großmütter aus Moldawien stammt. Unter dem Vorwand, deren Grab zu besuchen, darf er in das kleine Land am Schwarzen Meer ausreisen. Von Moldau bucht er einen Flug nach Serbien via Frankfurt. Dort beantragt er im Transitbereich Asyl und landet schließlich - wie so viele andere Menschen auch - in der Erstaufnahmeeinrichtung des Landes Hessen (EAEH) in Gießen.
Geblieben sind die Schuldgefühle
Für Putins Feldzug ist das ein Verlust. Maxim ist nämlich zu wertvoll, um in den Materialschlachten im Donbass verheizt zu werden. Der Informatiker, der seinen Wehrdienst in einer Flugabwehreinheit im hohen Norden in Murmansk geleistet hat, um die dort stationierte russische Nordmeerflotte zu schützen, ist eine gesuchte Fachkraft.
Maxim hätte sich also vielleicht irgendwie durch die anstehenden bitteren Jahre durchlavieren können. Doch das kam für ihn nie infrage: »Hätte ich die Flucht nach Deutschland nicht geschafft, hätte ich den Kriegsdienst verweigert.« In Kriegszeiten kann das bis zu zehn Jahre Haft bedeuten. »Aber das ist immer noch besser, als das Blut unschuldiger Menschen an meinen Händen zu haben«, sagt er.
Statt in den Krieg zu ziehen, sitzt Maxim nun in der EAEH in der Rödgener Straße und hat viel Zeit, über alles nachzudenken, was er hinter sich gelassen und aufgegeben hat. Da ist zum einen die Heimat. Maxim Nekulcha rechnet nicht damit, sie in den nächsten Jahren und Jahrzehnten wiederzusehen. Dafür sitze der Despot viel zu fest im Sattel - und was nach ihm komme, sei wahrscheinlich auch nicht viel besser, glaubt er.
Da sind zum anderen die Eltern, mit denen er noch Kontakt hat, die nicht begreifen können, warum er ins Exil gegangen ist, und denen er nicht den wahren Grund sagen kann. »Nein, meine Eltern wissen nicht, dass ich schwul bin«, übersetzt die ukrainische Dolmetscherin. »Mein Vater würde auch garantiert mit mir brechen, wenn er das einmal erfahren würde.« Und dann ist da noch der Mann, den Maxim liebt, geliebt hat, der Mann, mit dem er Zukunftspläne schmiedete, der Mann, der gemeinsam mit ihm fliehen wollte, im letzten Augenblick absprang und der sich seitdem nicht mehr gemeldet hat. Das ist der Stich, der ihn am tiefsten getroffen hat.
Treu geblieben sind ihm die Schuldgefühle, die ihn schon lange vor dem 24. Februar geplagt haben. Maxim fühlt sich mitverantwortlich für den Krieg, den sein Land an diesem Tag über seinen Nachbarn gebracht hat. »Hätte man das Abgleiten Russlands in die Diktatur verhindern können? Habe ich genug getan? Hätte ich mehr tun können?«, fragt sich ein Mann, der in seiner Heimatstadt für die Freilassung des ins Straflager verbannten Kreml-Kritikers Alexei Nawalny demonstrierte, obwohl dieser Menschen wie ihn ebenfalls schon verunglimpft hatte. Bei einer dieser Demonstrationen wurde Maxim festgenommen.
An den kleinen Friedensdemonstrationen, die es in den ersten Wochen des Krieges noch in Sankt Petersburg gab, habe er deshalb nicht mehr teilgenommen. »Ich hatte einfach Angst«, räumt Nekulcha ein. In Russland gibt es eine unausgesprochene Zwei-Versuche-Regel: Einmal darf man sich verhaften lassen. Taucht der eigene Name aber beim zweiten Mal in der Datenbank der Polizei auf, ist »Schluss mit lustig« und es drohen langjährige Haftstrafen.
Tief verwurzelter Schwulenhass
Russische Gefängnisse sind berüchtigt und für Menschen wie Maxim Nekulcha können sie lebensgefährlich werden, so tief ist der Schwulenhass in dieser Macho-Kultur verankert. »Diese Schurken exemplarisch bestrafen« schrieb schon am 7. März 1934 Stalin an den Rand eines Gesetzesentwurfs, der das während der Oktoberrevolution abgeschaffte Verbot gleichgeschlechtlicher Liebe wieder in Kraft setzte. Auch in dieser Frage tritt Putin in die Fußstapfen des bis dato schlimmsten Kremlherrschers.
Maxim war aber im Sankt Petersburger LGBT-Zentrum »Deystviye« (übersetzt: »Handlung« oder »Handeln«) aktiv gewesen und zudem noch Mitglied im russischen LGBT-Netzwerk, das mittlerweile als »extremistische Organisation» geächtet ist. »Deystviye« könne daher nicht mehr frei agieren, sei aber unter der Hand immer noch aktiv bei der Beratung von jungen Menschen, die entdecken, dass sie anders sind und damit sonst allein bleiben würden.
Während hierzulande Queerness kein Makel mehr ist, sondern unter dem an öffentlichen Gebäuden geflaggten Regenbogen jedes Jahr gefeiert wird, lernen Schwule in Russland schon früh, sich zu verstellen, erzählt der Kriegsdienstverweigerer. Sein Wehrdienst am Eismeer sei eigentlich erträglich und die Kameradschaft gut gewesen. Jedenfalls solange man bei allen Witzen mitlachte und keine Miene verzog, wenn sich in der Viermannstube abends genüsslich ausgemalt wurde, was man alles mit einem »Pidor« (»Schwuchtel«) anstellen würde, wenn man so einen in den eigenen Reihen hätte. »Wenn man als Schwuler sein Geheimnis nicht wahren kann, gerät man gerade im russischen Militär schnell in Lebensgefahr.«
Maxim Nekulchas erste Stütze hier in Deutschland war der russischsprechende Frankfurter LGBT-Verein »Goluboy Wagon«. Das habe sehr geholfen, gerade in den ersten Tagen. »Goluboy Wagon« heißt übersetzt »Hellblauer Wagen« und ist ein russisches Wortspiel. «Der hellblaue Wagen« ist eigentlich ein beliebter russischer Zeichentrickfilm, aber »Hellblauer« ist auch eine Selbstbezeichnung russischer Schwuler. Beim jüngsten Christopher-Street-Day in Frankfurt verspottete der Verein den Herren im Kreml mit einem Putin-Doppelgänger in Strapsen und mit Lippenstift.
Am meisten überrascht hat Maxim Nekulcha, dass es vor allem Ukrainer waren, die ihm bei der Eingewöhnung geholfen haben. Das hatte er so nicht erwartet und ist ihm ein weiterer Ansporn, so viel wie möglich zurückzugeben und sich für »die richtige Seite« einzusetzen. Und wenn er dann noch Deutsch gelernt hat, will der Informatiker auf Jobsuche gehen. Dass dürfte ihm nicht allzu schwer fallen. An Fachkräften herrscht hierzulande ja bekanntlich Mangel.