»Nicht viel für ein Menschenleben«

Im Prozess um den tödlichen Überfall in der Gießener Hindemithstraße belastet die Ex-Freundin eines Angeklagten das Verdächtigen-Trio schwer.
Gießen . Am Ende hält es den Angeklagten nicht mehr auf seinem Stuhl: Er springt auf und ruft der Zeugin, die gerade den Saal im Landgericht Gießen verlassen will, laute, verzweifelt klingende Worte nach, bis ihn sein Anwalt Alexander Hauer wieder beruhigen kann. Was er denn gesagt habe, fragt die Vorsitzende Richterin Regine Enders-Kunze die Dolmetscherin am vierten Verhandlungstag im Prozess gegen drei osteuropäische Männer, denen die Tötung eines Drogendealers in der Hindemithstraße zur Last gelegt wird. »Er wollte wissen, wie es seiner Katze geht«, denn die sei immer noch bei ihr.
Bis zur Blutnacht vom 28. Februar waren die gelernte Altenpflegerin und der Angeklagte ein Paar gewesen. Am gestrigen Donnerstag trat sie Zeugin auf und belastete das Trio auf der Anklagebank schwer. Am Anfang sei zwischen ihnen beiden alles super gelaufen, »aber am Ende hat er mich nur ausgenutzt«, berichtet die 39-Jährige und muss dabei immer wieder mit den Tränen kämpfen. Obwohl ihr damaliger Freund in der Erstaufnahmeeinrichtung des Landes Hessen registriert war, habe er doch die meiste Zeit bei ihr in ihrer Wohnung gelebt.
Detailliert schildert sie, wie ihr Lebensgefährte mit seinen Kumpanen nach dem Überfall in ihre Wohnung kam, um dort die Beute untereinander aufzuteilen: »140 bis 150 Euro und 15 Gramm Heroin waren das. Das reicht für zwei bis drei Tage. Das ist nicht viel für ein Menschenleben.«
Am Abend habe ihr Freund ihr noch erklärt, dass man mangels Geld den Dealer in der Hindemithstraße überfallen habe. Er selbst habe im Fluchtauto gewartet, während seine beiden Komplizen dem Dealer »eins aufs Maul gegeben« hätten.
Tags drauf habe sie von einem Bekannten, der in dem zum Tatort gewordenen Haus wohnt, erfahren, dass beiden Opfern dieses Überfalls mehr als nur einmal »aufs Maul« gehauen worden war. Als sie ihren Freund damit konfrontierte, habe der sich schwere Vorwürfe gemacht, weil er im Auto die Schreie des Opfers gehört, allerdings nicht eingegriffen habe.
Die Zeugin glaubt nicht, dass ihr Ex-Freund direkt an der Tötung des Mannes beteiligt war: »Er würde keinem Menschen wehtun, er ist eigentlich ein guter Mann«, versichert sie. Während ihrer Ausführungen macht sich ihr schmächtiger Ex-Freund viele Notizen. Immer wieder greift er fahrig in seinen langen Vollbart, während seine bulligen Komplizen keine Regung zeigen. Die Zeugin kennt auch diese beiden. Sie seien Bekannte ihres Ex-Lebensgefährten gewesen, aber keine Freunde. Kennengelernt habe man sich unter der Sachsenhäuser Brücke. Das sei der regelmäßige Treffpunkt des Drogenmilieus gewesen, bis dieser Ort kürzlich von der Stadt dichtgemacht worden sei.
Weil die Zeugin selbst Teil dieser Szene war oder ist, wäre es fast nicht zu ihrer Aussage gekommen. Rechtsanwalt Hauer hatte die Berufung eines Rechtsbeistandes für die Zeugin gefordert, damit die sich nicht selbst belaste. Das wiederum kommentierte Oberstaatsanwalt Thomas Hauburger mit den Worten: »Dass Sie diese Aussage verhindern wollen, ist klar.«
Die Vorsitzende Regine Enders-Kunze entschied schließlich, dass die Fragen, die die Zeugin selbst gefährden könnten, auf den nächsten Prozesstag am Montag verschoben werden. Bis dahin soll ihr ein Rechtsbeistand an die Seite gestellt werden.
Zuvor hatte die Nachbarin des Getöteten ausgesagt, die zuerst am Tatort war, weil sie ihren Nachbarn fragen wollte, ob sie ihm noch etwas aus dem benachbarten Supermarkt mitbringen könne, denn der Nachbar »hatte was mit den Beinen«. Dessen überlebendem Freund sei es nach ihrem Anklopfen gelungen, die von innen verschlossene Tür zu öffnen, sodass sie ihm den Knebel lösen konnte, um den Notruf zu wählen. Dieser Knebel sei so stramm gezogen gewesen, dass sie selbst daran sicherlich erstickt wäre, meinte die Nachbarin.
Ein Bekannter, mit dem sie an diesem Abend eigentlich zusammen kochen und fernsehen wollte, habe den reglos auf dem Boden liegenden Nachbarn danach kurz untersucht und dann gesagt: »Nee, da ist nichts mehr zu machen«. Noch bevor Notarzt und Polizei am Tatort waren, sei noch ein Nachbar aus einem der oberen Stockwerke kurz in der Wohnung gewesen und habe von dort einen großen Gegenstand (»einen Monitor oder so«) mitgenommen.