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Nüsse für Röntgen

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Das Grab von Wilhelm Conrad Röntgen auf dem Alten Friedhof. Vielleicht hätte es ihm gefallen, zu seinem Andenken Vogelfutter und Nüsse auszulegen. Archivfoto: Klein © Red

In Gießens Fußgängerzone sehe ich einen vielleicht dreijährigen Knirps und seine Großmutter. Der Dreikäsehoch sagt zu seiner Oma: »Mach mal Video.« Die Großmutter erwidert: »Dann musst du aber tanzen.« Und sofort vollführt der kleine Kerl gekonnt Bewegungen, die er in den Clips seiner südkoreanischen Vorbilder gesehen hat.

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Auf dem Weg in die Stadt sah ich eine junge Mutter mit ihrem Kleinkind im Kinderwagen. Die Mutter stand abgewandt, mit über den Kopf gezogener Kapuze und wischte auf ihrem Smartphone herum. Das Kind saß leise wimmernd und mit leerem Blick im Wagen. Die Einsamkeit und Traurigkeit des Kindes gingen auf mich über.

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Am Bücherkasten in der Plockstraße stieg ein Mann von seinem Rad und begann, noch ehe er die Bücher in Augenschein genommen hatte, laut zu kichern und die im Schrank abgestellten Bücher und ihre Spender zu beschimpfen. In seiner Gegenwart hatte ich keine Lust, den Schrank auf Lesbares zu durchforsten, und wandte mich zum Gehen. Das Kichern des Mannes war noch eine Weile zu hören. Sein Kichern brauchte keinen Anlass und Adressat. Er kicherte ins Leere. Meiden wir solche Verrückten oder Halbverrückten nicht in Wahrheit, weil sie laut sagen, was wir nur still vor uns hindenken? Wie ist ihnen die Hemmung abhandengekommen, die inneren Mono- und Dialoge laut werden zu lassen? Wie oft stehe ich an diesem Bücherschrank und denke: »Wer hat bloß wieder diesen ganzen Mist hier reingestellt?«

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Unsere Hausbesitzerin möchte das Gas aus dem Haus verbannen und auf Fernwärme umsteigen. Es fällt mir schwer, mich von meinem alten Gasherd zu trennen. Ich mag das Kochen auf ihm und will eigentlich keinen anderen Herd. Aber es wird mir nichts anderes übrig bleiben. Also suche ich einen Elektrofachhandel auf und erkundige mich nach einem Elektroherd. Wenn überhaupt, kommt nur einer mit richtigen Platten in Frage, nicht so ein komischer Induktionsherd. Es gibt in dem Laden gerade noch einen einzigen Herd des alten Typs. Ich frage an der Kasse nach einem Blatt Papier, um mir den Namen der Firma und des Modells aufschreiben zu können. »Fotografieren Sie doch einfach die Angaben ab, die oben auf dem Herd kleben«, rät die Verkäuferin. Aber sie ahnt bereits, dass ich ein verschrobener, altmodischer Typ bin. Als ich antworte, dass ich kein Smartphone besitze, reicht sie mir ein Blatt Papier und denkt sich ihren Teil. Ich gerate im Alltag immer mehr in eine abseitige Position. Aber da ich sie selbst gewählt habe, kann ich damit leben.

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Neulich sah ich, dass der Magistrat der Stadt Gießen und die Universität zum 100. Todestag von Wilhelm Conrad Röntgen am 10. Februar 2023 zwei hässliche Kränze an seinem Grab niedergelegt haben. Einer der Gebinde ist beinahe so groß wie die ganze Grabstätte. Röntgen hatte das, was die Inflation von seinem Vermögen übrig gelassen hatte, der Unterstützung von Armeneinrichtungen gewidmet. Insofern wäre ein weniger pompöser Kranz seinem Andenken gemäßer gewesen. Ich setzte mich eine Weile auf die Bank neben seinem Grab und gedachte seiner. Zögernd näherte sich ein Eichhörnchen, das eine Walnuss aus meiner Hand entgegennahm. Wahrscheinlich hätte es Röntgen gefallen, wenn man an seinem Grab statt dieser pompösen Kränze Nüsse und Vogelfutter ausgelegt hätte.

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In der Fußgängerzone steht vor einem Laden, der Nudelgerichte anbietet, eine dümmlich grinsende Plastikpuppe, ein sogenannter Aufblas-Grinch, der die Passanten durch eine mechanische Armbewegung zum Eintreten auffordert. Eine Sumpfblüte des Konsumismus, die aus Amerika zu uns herübergekommen ist. Einer der schlimmsten Aspekte der Globalisierung ist die fortschreitende Infantilisierung und Idiotisierung der Menschen.

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In gleißender Wintersonne und einem kalten Wind gehe ich die Lahn entlang. Ich träume vom ersten Bad im Fluss. Mindestens zwei, wenn nicht drei Monate werde ich noch warten müssen, bis ich es wagen kann, in den Fluss zu steigen. Über dem Feld steht rüttelnd ein Falke in der Luft. Ein paar Krähen lärmen und staksen über den Weg. An einem Montag um die Mittagsstunde sind nur wenige Menschen unterwegs. Sie führen ihre Hunde aus und strecken ihre Gesichter in die Sonne. Ein stattlicher Grünspecht kreuzt meinen Weg, lässt sich auf einer Birke nieder und beginnt den Stamm zu traktieren. Über der Birke steht am helllichten Tag ein fahler Halbmond am blauen Himmel. Solange es Tage wie diesen gibt, hat es Sinn, am Leben festzuhalten.

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Als der ehemalige Auschwitz- und Buchenwald-Häftling Imre Kertész Anfang der 1990er Jahre die Ruinen der Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin besuchte, notierte er: » Als täte sich plötzlich ein geheimer Keller auf, dringt die ganze Verwüstung und Verheerung der letzten Jahrzehnte an die Oberfläche. In ein paar Jahren wird sie verschwunden sein, wird sich alles, alles ändern - die Menschen, die Häuser, die Straßen; die Erinnerungen werden eingemauert, die Wunden zugebaut sein, der moderne Mensch mit seiner berüchtigten Flexibilität wird alles vergessen haben, wird den trüben Bodensatz seiner Vergangenheit wegfiltern, als wär’s Kaffeesatz. « Diese Sätze, die sich in seinem Buch »Ich - ein anderer« finden, lesen sich, als wären sie auf die in Gießen freigelegten Überreste der Alten Synagoge bezogen.

Der Gießener Götz Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitet an einer »Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus«, deren dritter Band unter dem Titel »Zwischen Anarchismus und Populismus« im Gießener Verlag Wolfgang Polkowski erschienen ist. Foto: Polkowski

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gikult_goetz_290122_4c_13 © Red

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