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Öffentlichkeit wird dringend benötigt

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Eine Stadt braucht Cafés, in denen Zeitungen ausliegen - sowie viele weitere Orte, an denen ein Miteinander entsteht. Foto: dpa © dpa

Gießen. Oberbürgermeister Frank-Tilo Becher, so ist der Samstagsausgabe des Anzeigers zu entnehmen, will die »gesunde Stadt«. Abgesehen davon, dass man sich fragen kann, was eine »gesunde Stadt« sein soll und ob »gesund« im sozialen Feld eine angemessene Kategorie darstellt, ist gegen dieses Ziel wenig einzuwenden. Über die Mittel, es zu erreichen, wird man allerdings streiten müssen.

Und die variieren je nach Diagnose des gegenwärtigen Krankheitszustands. Dass Gießen, wie viele andere Städte auch, schwer »krank« ist und auf dem letzten Loch pfeift, teilt sich dem aufmerksamen Beobachter bei einem Gang durch die Stadt schnell mit.

Für OB Becher spielt der Sport bei der Therapie eine zentrale Rolle. Sport für alle, für Klein und Groß, Jung und Alt, eine Gymnastikgruppe für Senioren im Theaterpark. Angesichts des Zustandes der Stadt Gießen erinnert dieses Therapeutikum an den Versuch, einen Krebskranken mit einem Hühneraugenpflaster zu kurieren.

Das war die Karl-Kraus-Definition von Sozialdemokratie: eine Hühneraugenoperation an einem Krebskranken. Und OB Becher ist ja nun mal Sozialdemokrat und somit auch Anhänger solcher sozialen palliativmedizinischen Eingriffe. Ansonsten müsste man über die im Geist des Funktionalismus errichteten Nachkriegsstädte mit ihren Trabantensiedlungen und Gettos sprechen, über das Konzept der »autogerechten Stadt« und seine in der Gegenwart in offenen Wahnsinn umkippenden Konsequenzen, über die Auswirkungen der Immobilien- und Bodenspekulation, darüber, wie sich die Verödung der Innenstädte auf den seelischen Haushalt und auf die menschliche Kommunikation auswirkt.

Es gibt neben dem körperlichen auch so etwas wie ein soziales Immunsystem, das im Kern aus menschlichen Beziehungen und Bindungen besteht. Eine »gesunde Stadt« wäre in diesem Sinn eine, die die Entwicklung und den Erhalt menschlicher Bindungen ermöglicht und fördert. Wie kann das gelingen? Eine Stadt braucht Cafés, in denen Zeitungen ausliegen, kleine, fast dörfliche Inseln der Besinnung, sie braucht den kleinen Laden und einen Wochenmarkt, wo man einander kennt und vermisst, wenn mal einer ein paar Wochen nicht auftaucht. Und sie benötigt Buchhandlungen, Antiquariate, frei zugängliche Bibliotheken und Theater, die den Geist mit Nahrung versorgen. Mit einem alten Wort: Sie benötigt Öffentlichkeit.

Durch die Entwicklung der Städte in den letzten Jahrzehnten ist dieses urbane Element fast vollständig zerstört worden. Daran kranken unsere Städte und wir selbst. Mehr Sport ist schön und gut, um aber zu einer »gesunden Stadt« zu gelangen, braucht es mehr als eine Hühneraugenbehandlung und den Griff in die Kiste der sozialpolitischen Palliativmedizin. Der dänische Philosoph Kierkegaard hielt angesichts der modernen Leiden den Rat bereit: »Wenn ich Arzt wäre und man mich fragte: Was rätst Du? Ich würde antworten: Schaffe Schweigen.« Ein wichtiger Schritt auf dem Weg der Gesundung der Städte wäre ihre umfassende Beruhigung.

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