»Ohne uns geht in der Klinik nichts«

Die neue Pflegedirektorin des UKGM in Gießen, Judith Schäfer, spricht über die aktuell schwierige Situation in der Pflege, die Corona-Pandemie und welche Ziele sie sich gesteckt hat.
Gießen . Sie ist sozusagen ein Eigengewächs des Gießener Universitätsklinikums (UKGM). Denn Judith Schäfer hat hier ab 1986 ihre Ausbildung zur Kinderkrankenschwester absolviert. Seit September ist die 55-Jährige nun die neue Pflegedirektorin am hiesigen Standort des drittgrößten Uniklinikums in Deutschland. Dazwischen lagen für die gebürtige Marburgerin Jahre der Weiterbildung unter anderem mit einem Bachelorstudium im Pflege- und Casemanagement sowie zur klinischen Risikomanagerin, eine Nebentätigkeit als Dozentin in der Heilerziehungspflege der Deutschen Angestellten Akademie sowie Pflegedienstleitungen in der Gießener Kinder- und Frauenklinik. Anlass für Fragen im Interview mit dem Anzeiger gibt es also genug. Erst recht zu einer Zeit, in der das Thema Pflege nicht nur wegen der Corona-Pandemie so aktuell und bedeutend wie nie zuvor erscheint.
Frau Schäfer, wieso haben Sie gerade den Beruf der Kinderkrankenschwester gewählt?
Eigentlich gab es für mich nie eine Alternative hierzu. Schon als Kindergarten-Kind habe ich an Weihnachten ein Krankenschwestern-Outfit bekommen. (lacht) Was man in diesem Beruf von Kindern und Eltern auf der Station zurückbekommt, ist einfach nur toll. Es gibt Eltern, die sich auch Jahre später noch bei mir melden und sich bedanken, dass wir damals ihrem Kind geholfen haben. So zum Beispiel eine Mutter aus Ungarn, die mich seit 32 Jahren jedes Jahr im Dezember anruft.
Warum haben Sie sich dafür entschieden, im fortgeschrittenen Alter noch ein dreijähriges Studium dazwischenzuschieben?
Ich bin jemand, der immer mit Herzblut dabei ist. Ich möchte gerne mitgestalten und eigene Ideen einbringen. Mit der Weiterbildung zur Stationsleitung hatte ich auch die Hochschulzugangsberechtigung erhalten. 20 Jahre später wurde ich als eine von zwei Personen am UKGM für das Studium ausgewählt. Allerdings war es da auch schon ein paar Tage her, dass ich zur Schule gegangen war. Aber was man sich vornimmt, zieht man auch durch. Rückblickend war das Studium eine echt anstrengende Zeit für mich, aber gleichzeitig auch die beste.
Fiel Ihre Entscheidung, den Posten der Pflegedirektorin als Nachfolgerin von Lothar Zörb zu übernehmen, auch so spontan?
Nachdem uns Herr Zörb mitgeteilt hatte, dass er in Rente geht, habe ich vier Monate überlegt und bin in mich gegangen, ob ich mich auf diese Stelle bewerben soll, denn ich habe mich immer wohlgefühlt in Kinder- und Frauenklinik. Man wächst an seinen Aufgaben, deshalb habe ich den Schritt gewagt. Leider aber habe ich jetzt nicht mehr so viel Zeit, auf die Stationen zu gehen.
Wenn Sie die Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte aus Ihrer beruflichen Anfangszeit in der zweiten Hälfte der 80er Jahre mit den heutigen vergleichen, wo sehen Sie die größten Unterschiede?
Die Medizin hat sich in dieser Zeit deutlich weiterentwickelt. Beispielsweise sind viele Mukoviszidose-Patienten damals im Alter von 20 bis 25 Jahren gestorben, heute werden sie häufig richtig alt. Mit den Fortschritten in der Medizin ist es in der Klinik aber auch deutlich schnelllebiger geworden. Die Patienten gehen jetzt schneller nach Hause. Allerdings ist ihre Betreuung teilweise pflegerisch aufwendiger geworden, weil man viel mehr machen kann - Gottseidank! Zum anderen ist es heute nicht mehr so, dass man wie früher in der Kinderklinik als Schwester allein für 17, 18 Patienten verantwortlich ist. Daher kann man in der Pflege nicht sagen, dass früher alles besser war.
Was haben Sie sich für Ihre Amtszeit als Pflegedirektorin für Ziele gesetzt, die Sie mit Ihrer Arbeit erreichen wollen?
Ich möchte zeigen, was für ein toller Beruf die Pflege ist. Es ist einer der schönsten, den man sich aussuchen kann, und er macht viel Spaß. Ich möchte erreichen, dass auch die Beschäftigten das so sagen und mit Stolz durch die Gänge gehen. Trotz aller Probleme gilt es, zuerst immer das Positive zu sehen. Jeder sollte wissen: Ohne uns geht in der Klinik gar nichts. Unsere Pflegekräfte sind absolute Spezialisten auf ihrem Fachgebiet, mit einer hervorragenden Ausbildung. Im Pflegedienst wird leider manchmal mehr gejammert als nötig. Der Beruf ist anstrengend, ja, unbestritten. Aber er gibt einem auch viel. Was möchte ich noch erreichen? Noch mehr Möglichkeiten zur Weiterbildung anbieten, zum Beispiel einen Studiengang zur Advanced Practice Nurse (APN; Pflegeexperte/in mit erweitertem Handlungsbereich, Anm. d. Red.) . Die Geschäftsführung geht diesen Weg hundertprozentig mit.
Welche Aufgaben sind Sie nun zuerst angegangen?
Ich besuche nach und nach alle Stationen und die Pflegeteams. Vor allem die, wo ich vorher noch nicht war. Dort habe ich allen gesagt: »Ich stehe hinter Euch und werde immer ein offenes Ohr für Eure Anliegen haben.« Das haben auch schon viele genutzt. Auch in meinem alten Wirkungskreis im Kreißsaal war ich dieser Tage, weil wir am UKGM in Gießen im vergangenen Jahr erstmals über 2000 Geburten hatten.
Es fehlt im Pflegebereich an Nachwuchs: Was muss sich Ihrer Ansicht nach ändern, um mehr Menschen für diesen Beruf zu gewinnen? Reicht eine bessere Bezahlung allein aus?
Nein, das allein reicht nicht aus. Wir müssen vor allem viel mehr Werbung für unseren eigenen Beruf machen. Und auch für die Weiterbildungs- und Karrieremöglichkeiten; dafür bin ich das beste Beispiel.
Als Außenstehender hat man den Eindruck, dass in den vergangenen Jahren zahlreiche Pflegekräfte das Uniklinikum verlassen haben und dies bislang nicht ausgeglichen werden konnte. Stimmt dieser Eindruck?
Die Patienten-Fallzahlen sind derzeit so hoch wie nie. Zudem ist das UKGM ein Haus der Maximalversorgung, wodurch schwerere Fälle aus umliegenden Krankenhäusern hierher verlegt werden. Wir haben die Anzahl der belegbaren Betten an die der beschäftigten Pflegekräfte angepasst. Im Pflegebereich haben wir schon immer viel Fluktuation gehabt. So werden die einen schwanger, andere studieren oder orientieren sich beruflich um, oder sie gehen der Liebe wegen aus Gießen weg. Es ist nicht so, dass viele Altgediente uns verlassen würden. Vielmehr kommen heute weniger Bewerber und nicht genug, um alle offenen Stellen in der Pflege besetzen zu können.
Und dann gibt es da noch eine Pandemie. Wie hat sich diese ausgewirkt?
Die letzten zwei intensiven Corona-Jahre haben in der Pflege ihre Spuren hinterlassen. Es war eine unfassbare Belastung, auch wegen der zusätzlichen Schutzmaßnahmen und der vielen emotional belastenden Situationen auf den Covid-Stationen. Man muss vor allen den Hut ziehen, die das geschafft haben. Denn keiner von uns hat erwartet, dass es so lange dauern würde. Wir haben in der Pflege momentan einen hohen Krankenstand. Es gab mehrere solcher Krankheitswellen, da geht es uns nicht anders als der übrigen Bevölkerung.
Wie sieht es in den Ausbildungskursen aus?
Unsere Kurse sind voll, doch von den jährlich rund 60 Anfängerinnen und Anfängern bestehen einerseits nicht alle. Einige bleiben nicht hier, und andere merken schon während ihrer Ausbildungszeit, dass dieser Beruf doch nichts für sie ist, und sie brechen ab. Es gibt auch solche, die nach ihrem Examen erst mal ein Jahr lang die Welt entdecken wollen. Diejenigen, die sich nach der Ausbildung um eine Stelle bei uns bewerben, haben ganz klare Vorstellungen über ihre Beschäftigungswünsche. Das ist breitgefächert und reicht von Chirurgie über Onkologie bis Kinderkrankenpflege. Das freut mich.
Sind die insgesamt 44 philippinischen Pflegekräfte, die vor circa zwei Jahren ans UKGM Gießen kamen, inzwischen im Dienst?
Ja, mittlerweile arbeiten alle von ihnen in verschiedenen Klinikbereichen. Sie sind komplett einsatzfähig. Es ging vor allem darum, sie sprachlich zu schulen. Und wir wollten ihnen die Zeit geben, sich bei uns einzuleben und das UKGM kennenzulernen.
Das UKGM hat ab Herbst 2021 mit einer Einstellungsprämie von 5000 Euro pro Person versucht, zusätzliche Intensiv-Pflegekräfte anzulocken - hat das Erfolg gezeigt?
Nein. Dieses Programm wurde kurz danach wieder abgeschafft.