OP am offenen Herzen geglückt

Die Mittelhessischen Wasserbetriebe nehmen im Klärwerk Gießen drei moderne Blockheizkraftwerke in Betrieb und werden dadurch beinahe energieautark.
Gießen . Allen Grund zum Feiern hatten am Dienstag die mittelhessischen Wasserbetriebe (MWB). Nach siebenjähriger Planungs- und Bauphase wurden drei neue Blockheizkraftwerk- (BHKW) und Verdichterstationen im Gießener Klärwerk durch Stadträtin Gerda Weigel-Greilich und MWB-Betriebsleiter Clemens Abel offiziell in Betrieb genommen.
Mit den neuen Stromerzeugern, die Vorgänger aus den 1980er Jahren ablösen, ist das Gießener Klärwerk dem Ziel der Energie-Autarkie einen großen Schritt näher gekommen. Autarkie heißt, dass die Klärwerke ihren benötigten Strom selbst aus Biogas erzeugen, das bei der Klärung der Abwässer entsteht.
Der Anteil der selbst erzeugten Energie steigt damit von rund 70 auf 94 Prozent. »Noch ein paar Photovoltaikanlagen auf die Dächer und wir haben es geschafft«, meinte Abel. Auch Weigel-Greilich freute sich, dass mit dem Klärwerk einer der größten Energieverbraucher Gießens Bürgern erhebliche Kosten einspare.
Millionenersparnis
Konkret: Pro Jahr sparen die MWB damit rund eine Million Euro an Stromkosten. Dem gegenüber stehen bei einer projektierten Lebensdauer der neuen BHKW von 20 bis 25 Jahren Baukosten von gut 18 Millionen Euro. Klingt nach einem Nullsummenspiel, aber »so dürfen sie nicht rechnen«, erklärte Abel, denn »die schon mehrfach nachgerüsteten alten und weniger effizienten Kraftwerke hätten wir ja ohnehin ersetzen müssen«. Diese Einsparungen würden zudem helfen, die massiven Kostensteigerungen - etwa für benötigte Chemikalien zur Wasseraufbereitung - aufzufangen und so die Gebühren für die Bürger stabil zu halten.
Neben der Freude war dem Betriebsleiter während der Feierstunde auch die Erleichterung anzumerken, dass die »Operation am offenen Herzen« gelungen ist. Während der Bauarbeiten musste die Energieversorgung des Klärwerks nämlich jederzeit gewährleistet bleiben. Ein Klärwerk muss 24 Stunden am Tag an 365 Tagen im Jahr arbeiten, ansonsten droht der GAU. Würde das Abwasser von gut 92 000 Gießenern ungefiltert in die Lahn fließen, wie weiland zu Schlammbeisers Zeiten, würde der Fluss sofort umkippen.
»Wir haben hier schon eine große Verantwortung«, betonte Abel. Darum sind von den drei neuen BHKW auch nur zwei im ständigen Einsatz. Das dritte springt immer dann ein, wenn eines der anderen beiden gewartet werden muss. Für den Fall des - hoffentlich nie eintretenden - Falles gibt es auch noch ein neues Notstromaggregat, um auch bei Stromausfall die Abwassereinigung aufrechtzuerhalten.
Die Anlagen wurden zudem auf Energieeffizienz optimiert und der elektrische Wirkungsgrad verbessert. Ein Beispiel: Vier neue Verdichter pumpen komprimierte Luft in die acht Belebungsbecken des Klärwerks, um den Sauerstoffgehalt des Wassers zu erhöhen, bevor es in die Lahn geleitet wird.
Dazu saugen diese Verdichter die Umgebungsluft an und verdichten deren Druck um circa 550 mbar. Dieser höhere Druck wird benötigt, um die Luft in die sechs Meter tiefen Belebungsbecken zu fördern. Die Mikroorganismen im Abwasser in den Belebungsbecken benötigen den hineingepumpten Sauerstoff, um das Abwasser zu reinigen. »Die neuen Verdichter tragen zur sicheren und energieeffizienten Versorgung der biologischen Reinigungsstufe und somit zur sicheren Grenzwerteinhaltung bei«, betonte Abel
Schaufelräder pumpen die Luft mit bis zu 30 000 Umdrehungen pro Minute in die Belebungsbecken. Im Gegensatz zu den früheren Drehkolbengebläsen sind die neuen magnetgelagert. Das heißt, es gibt keine mechanische Reibung mehr, wodurch allein schon der Stromverbrauch bis zu 15 Prozent niedriger ist, als bei den alten Gebläsen.
Weiterer Pluspunkt: Stromerzeuger und Stromverbraucher liegen jetzt nur wenige Meter voneinander entfernt in derselben Halle, sodass die Leitungsverluste auf ein Minimum reduziert werden.
Mehr Strom erzeugt als verbraucht
Summa summarum konnte mit all diesen technischen Kniffen und Tricks die erzeugte Strommenge auf 1000 Megawattstunden (MWh) erhöht werden. Der Stromverbrauch sank dagegen auf 885 MWh, was die Gesamtenergiebilanz des Gießener Klärwerks deutlich verbessert.
Mit den Blockheizkraftwerken und den Verdichtern mussten auch die Gebläse und die Steuertechnik ausgetauscht werden. »Wenn Sie sich einen höheren Tisch anschaffen, dann brauchen Sie auch höhere Stühle«, veranschaulichte der Betriebsleiter. Damit sei das Klärwerk in Gießen aber technisch auf dem neuesten Stand und ein Vorreiter.
In anderen Ländern kann man von diesen hohen Standards übrigens nur träumen. In der bolivianischen Stadt Puno beispielsweise, etwas größer als Gießen, erleichtern sich die Bewohner der Armenviertel mangels Kanalisation auf einer großen Wiese am Seeufer, wodurch schon der Geruch dem Touristen verrät, dass dieses Gewässer wohl nicht ganz zu Unrecht »Titi- cacasee« heißt.