Ordnungswidrigkeit wird zur Straftat

Vor dem Hintergrund des Berliner Autoraser-Prozesses hatte der Verein »Criminalium« zur Podiumsdiskussion »Strafbarkeit bei Auto-Raser-Fällen - auch wegen Mordes?« in das Rathaus eingeladen.
Gießen . Berlin, 1. Februar 2016: Zwei Autofahrer liefern sich in mitten der Hauptstadt ein illegales Autorennen. Mit bis zu 160 km/h überqueren sie zahlreiche rote Ampeln, bis einer der Fahrer in einen unbeteiligten Jeep rast, der bei Grün die Kreuzung überquerte. Der Fahrer des Jeeps starb sofort.
Der Fall sorgte bundesweit für Aufsehen löste eine allgemeine Debatte um verbotene Kraftfahrzeugtrennen aus, die in einem neuen Gesetz im Strafgesetzbuch endete, dem «§315d - Verbotene Kraftfahrzeugrennen«. Die beiden Fahrer waren die ersten, die in Deutschland in diesem Zusammenhang des Mordes verurteilt wurden. Das Urteil wurde mehrmals zwischen dem Landgericht Berlin und dem Bundesgerichtshof hin- und her verwiesen, bis es letztlich 2022 rechtskräftig wurde.
Vor diesem Hintergrund hatte der Verein »Criminalium« zu der hochkarätig besetzten Podiumsdiskussion »Strafbarkeit bei Auto-Raser-Fällen - auch wegen Mordes?« in den Hermann-Levi-Saal des Rathauses eingeladen. Den Impulsvortag hielt der Prof. Bernhard Kretschmer, Leiter der Professur für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Justus-Liebig-Universität Gießen, bevor auf dem Podium Prof. Marcel Verhoff, Direktor des Instituts für Rechtsmedizin am Universitätsklinikum Frankfurt am Main, Dr. Klaus Bergmann, Vorsitzender Richter am Landgericht Gießen, Rechtsanwalt Ramazan Schmidt, Gießen sowie Sabine Richter (Pressestelle Polizeipräsidium) und Polizeiobermeister Michael Schramm von der Arbeitsgruppe »Drifter« der Gießener Polizei dazu Stellung nahmen.
In seinem Impulsvortag bezog sich Kretschmer auf jenen Unfall, der Rechtsgeschichte geschrieben hat. Für den Professor ist der Paragraf 315d mit heißer Nadel gestrickt worden, er enthält schwammige Formulierungen und Unsicherheiten, die man durchaus kritisch sehen könne. »Durch dieses Gesetz ist eine Ordnungswidrigkeit zu einer Straftat erhoben worden, mit all seinen Folgen.« Der Paragraf würde sich auf alle Kraftfahrzeuge beziehen. Unter diesen Begriff würden jedoch deutlich mehr Fahrzeuge fallen als nur Autos. Als Beispiel nannte er die E-Scooter. Wenn nun zwei Personen irgendwo auf einer ruhigen Straße ein kleines Rennen austragen würden, so würden sie nach dem aktuellen Gesetz eine Straftat begehen. Dieses Beispiel rief Heiterkeit hervor, auch wenn der Hintergrund ernst ist.
Tendenz Richtung Strafverschärfung
Kretschmer sieht insgesamt eine starke Tendenz in Richtung Strafverschärfung, die sich in den Gesetzestexten der jüngsten Zeit widerspiegle. In der anschließenden Diskussion erörterten die Juristen gemeinsam mit den beiden Polizeibeamten und dem Rechtsmediziner die Problematik, die sich aus dieser Verschärfung der Gesetzeslage aktuell ergibt.
So beschrieb Marcel Verhoff, der lange Zeit an der Gießener Universität in der Rechtsmedizin gearbeitet hat, die Folgen eines Zusammenpralls mit sehr hoher Geschwindigkeit. Die Rechtsmedizin würde durch das Zusammentragen der einzelnen Puzzlesteine zur Aufklärung des Tathergangs beitragen. Rechtsanwalt Schmidt wies auf die extrem lange Verfahrenszeit von mehr als fünf Jahren hin und gab offen zu, dass er das Strafmaß nicht so recht nachvollziehen könne. »Sind Autoraser automatisch auch Mörder?« Mit dieser Gleichsetzung habe er Probleme, gerade in Hinblick auf die verschiedenen Merkmale, die zwingend zu einem Mord dazu gehören würden. Für ihn ist dieses Urteil dem aktuellen Zeitgeist geschuldet.
Dem widersprach Klaus Bergmann aus Sicht des Richters, denn jedes Gericht versuche, dem Angeklagten und seiner Motive gerecht zu werden und man würde nur die jeweils geltenden Gesetze anwenden. Einigkeit herrschte dahingehend, dass die höheren Instanzen wie der Bundesgerichtshof oder auch das Bundesverfassungsgericht wesentlich enger mit den politischen Ebenen verknüpft seien als die unteren Gerichtsbarkeiten. Diese würden in den meisten Fällen schuldangemessene Urteile sprechen, betonte Klaus Bergmann.
Verhältnismäßigkeit berücksichtigen
Prof. Arthur Kreuzer wies in seinem Redebeitrag darauf hin, dass man bei aller Diskussion um die Frage, ob es sich bei solchen Raserunfällen um einen Mord oder einen Mordversuch handle, immer auch auf die Verhältnismäßigkeit der Tat berücksichtigen müsse. Seiner Ansicht nach habe dies der Bundesgerichtshof in seiner Beurteilung der Urteile in dem Berliner Verfahren nicht ausreichend getan.
Zum Thema der Poser, Tuner und Drifter im hiesigen Raum berichtete Schramm, dass sie regelmäßig Fahrzeuge mit unerlaubten Einbauten aus dem Verkehr ziehen würden. Das führe zur Stilllegung und zu saftigen Strafen, auch für den Fahrzeughalter. In dieser Szene seien alle Personen- und Altersgruppen vertreten, so dass man da nicht von einem einheitlichen Bild sprechen könne. In Bezug auf die künftige Entwicklung der E-Autos meinte der Polizeibeamte, dass sich auch darauf die Szene einstellen würde. Jedenfalls hätten die hohen Spritpreise bislang noch keine Auswirkungen auf die Szene gezeigt.
Insgesamt kam die Diskussionsrunde zu dem Ergebnis, dass es sich bei dieser Problematik nur um einen ganz kleinen Teil des Strafrechts handele, dem durch die Medien ein hohes Maß an Aufmerksamkeit geschenkt wird.
