Originelles und Originale im Quartier

Erfolgreiche Migrationsgeschichten hatte Ali Shaker bei seiner unterhaltsamen und interessanten Führung durch die Gießener Nordstadt zu erzählen.
Gießen. Als einen Schmelztiegel und einen Stadtteil mit einer vielschichtigen Problemlage lernten die Teilnehmer einer Führung »Migranten in der Nordstadt« dieses Quartier kennen. Lutz Perkitny, der Leiter des Nordstadtzentrums, hatte diesen Rundgang organisiert und erläutert: »Hier gibt es viel Spannendes zu entdecken. Der Besucher taucht ein in eine andere, ihm fremde und oftmals faszinierende Welt inmitten Gießens. Zudem lässt sich in dem Stadtteil mit seinen mehr als 10 000 Bewohnern etwas finden, was auch hier zwar seltener geworden, jedoch immer noch zu finden ist. Etwas, das es im Professorenviertel oder vielen Neubausiedlungen in dieser Form nicht gibt: großen Zusammenhalt, starkes Miteinander und gegenseitige Unterstützung.«
Dabei begegneten die Besucher bekannten Originalen aus dem Stadtteil und tauchten ein in die großen und kleinen Geschichten des Viertels.
»Die Nordstadt ist ein Stadtteil, der seit jeher für die Aufnahme von Menschen aus aller Welt bekannt ist, und verfügt über eine spezifische Gastarbeiter- und Migrationsgeschichte.« Diese kennenlernen wollten auch Annette Pfannmüller, die (nicht ganz) neue Leiterin des Landgraf-Ludwig-Gymnasiums, sowie Cornelia Seitz, die ebenfalls (fast) neue Geschäftsführerin der ZAUG. Der 20-jährige Lehramtsstudent Ali Shaker, aufgewachsen in der Nordstadt, stellte als Tourguide seine »Hood« - bedeutet in der deutschen Jugendsprache »Nachbarschaft« - mit launigen Worten vor.
Nicht wegzudenken aus dem Flussstraßenviertel ist Gülsenem Yilmaz. 1973 ist sie mit ihren Brüdern nach Deutschland gekommen und betreibt seit mehr als 15 Jahren das Reisebüro »Rising Sun« an der Ecke Asterweg/Sudetenlandstraße. Ihr Bruder Zeynal führt eine Fahrschule, ist langjähriger Vorsitzender des Ausländerbeirates der Stadt. Aus familiären Gründen war die Reiseexpertin verhindert, dabei zu sein.
Als eine »langjährige Erfolgsstory dank harter Arbeit« stellte Shaker die Pizzeria Eduardo vor. »Sie steht stellvertretend für erfolgreiche Migrationsgeschichten in der Nordstadt, besteht seit 1985 am selben Platz.« Namensgeber Eduardo war 1985 nach Gießen gekommen und hatte in der Marburger Straße seine Pizzeria mit Lieferservice eröffnet. 1996 wurden die Räumlichkeiten erweitert. Eduardo und seine Frau backen seither Pizza in italienischer Tradition, das heißt mit frischen Zutaten und dünnem Teigboden. Shaker verwies auf weitere Erfolgsstorys: Das »stark frequentierte« Restaurant Süleyman sowie SaraCafè, beide fast schräg gegenüber stadteinwärts auch in der Marburger Straße beheimatet.
Giorgio Vincenzo (heute bereits 79) und Raffaele Polizza wurden besucht. Beide wohnen seit Jahrzehnten in denselben Wohnungen in der Nähe des Kreisels Schwarzlachweg/Ecke Schottstraße. Jedem Passanten bietet der - viele Jahrzehnte als Fußballschiedsrichter pfeifende - Giorgio einen Espresso an, lädt zum Schwätzchen mit einem Stück Kuchen ein. Er ist Ansprechpartner für viele aus der Umgebung und ein bekanntes Gesicht im Stadtteil - vor allem aber eine nicht wegzudenkende Identifikationsfigur für viele Menschen im Quartier. Er steht für Zusammenhalt, der für viele Bewohner gerade in schwierigen Zeiten und Lebenslagen wichtig ist.
Selbiges gilt für Raffaele. Er ist ein eher leiser Typ und unterstützt die Nachbarschaft in allen Lebenslagen. Wie Vincenzo pflegt er den Vorgarten, hütet in Urlaubszeiten die Wohnung von so manchem Nachbarn oder nimmt in solchen Zeiten die Hunde in Betreuung. Seine Nachbarn unterstützt er, wo es nur geht - selbst mit Essen. Beide Migranten engagieren sich auch ehrenamtlich in ihrem Stadtteil und im Nordstadtzentrum.
Der Eder-Bolzplatz ist Ort der Begegnung, Ort des Miteinanders, des Austausches und der Integration. Shaker ist hier seit gut sechs Jahren mit dabei. »Hier spielt es keine Rolle, wo Du herkommst, was Du machst, wie Du aussiehst.« Auf »dem Eder« würden Fairness und der Umgang miteinander gelebt und gelernt. Und das seit Generationen.
»Sport verbindet. Wir helfen uns hier gegenseitig. So beim Bewerbung schreiben oder auch mal, wenn es knapp ist hinsichtlich dem Geld für einen Besuch in der Soccerhalle am Donnerstag.« Der Sonntag und der Donnerstag auf dem Platz sind vielen eine wichtige Stütze in ihrem Leben und geben die so wichtige Orientierung. Eder-Kind Erdinc Solak hat es dabei sogar bis in die 2. Fußballbundesliga geschafft. Viele der älteren sind fast ein Vierteljahrhundert dabei. Manchmal tummeln sich sonntags bis zu 50 Menschen zwischen 15 und 65 Jahren auf dem Platz. »Wahnsinn und einzigartig - mit Sicherheit weit über Gießen hinaus«, so Shaker.
Die nächste Führung findet am 24. Juni um 11 Uhr statt. Start und Treffpunkt am Nordstadtzentrum, Buchung über die Tourist-Information Gießen.