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Planet Putin

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Von: Björn Gauges

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Sieht im Westen »Satanismus« am Werk: Wladimir Putin. Foto: dpa © dpa

Im Gegensatz zu vielen anderen drängenden und kontrovers diskutierten Themen unserer Zeit lässt sich dieser Fall auf eine einfache Frage reduzieren: Ist es hilfreich, wie dies Sarah Wagenknecht und Alice Schwarzer gerade mit ihrem »Manifest« getan haben, ein Ende der Waffenlieferungen an die Ukraine zu fordern, um den Krieg zu beenden? Wer solch einen Appell formuliert, muss ihn natürlich vor allem an denjenigen adressieren, der diese Katastrophe verantwortet - und als Einziger umgehend beenden könnte:

Wladimir Putin.

Aufräumen mit einem Mythos

Diesen Mann nimmt nun Michael Thumann, langjähriger Moskau-Korrespondent der Wochenzeitung »Die Zeit«, in seinem ungemein lesenswerten Buch »Die Revanche« unter die Lupe. Darin zeichnet er nicht nur die jüngere Entwicklung Russlands nach dem Zerfall der Sowjetunion nach, sondern er beschreibt auch den Werdegang des Präsidenten, der sich vom blassen Neu-Präsidenten zum hasserfüllten Herrscher eines diktatorischen Systems entwickelt hat. Ist dieser Putin des Jahres 2023 also für die Argumente aus dem deutschen Friedenslager erreichbar?

Thumanns Analyse ist klar, fundiert und schlüssig argumentiert. Dabei räumt er zunächst mit einem sich hierzulande hartnäckig haltenden »Mythos« auf. Putins aggressiv-nationalistischer Kurs gegen den Westen war eben keine Antwort auf eine vermeintliche Einkreisungsstrategie der Nato. Für den Journalisten zeigt sich in dieser Annahme gar eine westliche »Geringschätzung« dem einstigen Imperium gegenüber. Der Grund habe vielmehr in Russland selbst gelegen: »in einer bedrohlichen Krise für Putin, die 2011 ausbrach«.

Denn mit dem Entstehen eines gewissen Wohlstands und städtischer Mittelschichten kamen auch Forderungen nach mehr Mitsprache und Teilhabe. Nach seiner Rückkehr in das Präsidentenamt (und gefälschten Wahlergebnissen) fielen Putins Beliebtheitswerte damals rasch in den Keller. Seine Antwort darauf war für Thumann eine »neue Erzählung« - der Präsident erfand den aggressiven Nationalismus.

Dessen Merkmale werden im Buch kenntnis- und detailreich aufgefächert. Kapitel für Kapitel zählt der Autor Putins Strategien auf. Dazu zählen etwa die militärischen Interventionen an den eigenen Außengrenzen ebenso wie in Afrika: in Tschetschenien und in Georgien, in Syrien und in Libyen, auf der Krim und im Donbass. Hinzukommt die Einflussnahme auf die politischen Systeme des Westens, von der finanziellen Unterstützung rechtspopulistischer Parteien über die Vergiftung öffentlicher Debatten in den sozialen Medien bis hin zu den Mordanschlägen, denen vermeintliche Staatsfeinde in London oder Berlin zum Opfer fielen.

Und vor allem zählt dazu auch die zunehmende Autokratisierung im Innern. Die Propaganda wurde immer schärfer, Oppositionelle landeten im Straflager, Wahlen wurden zunehmend zur Farce. Dabei testete die Staatsmacht laut Thumann »Grenzen, erst nach innen, dann nach außen. Und weil Putin kein kleines Land regiert, sondern eine nukleare Großmacht, erschüttert er heute Europa und die Welt.«

Der Autor geht zugleich der Frage nach, warum die Russen sich scheinbar so widerstandslos in diesen grotesken Krieg gefügt haben, der sie Wohlstand, Zukunft, und Tausende junge Männer auch ihr Leben kostet. Reisen, durchlässige Grenzen, das Gefühl von Freiheit: All das sei für viele nur ein Luxus, den man sich leisten können müsse. Die Russen wollten hingegen »nur absolute Sicherheit und genug zu essen haben. Das reicht schon«, wird eine Oppositionelle zitiert.

Thumann reichert seine politische Analyse mit Gesprächen unter ganz normalen Moskauern ebenso an, wie mit Recherchereisen in die Provinz. So ergründet er die weiterhin hohen Zustimmungswerte für den Diktator ebenso wie die Hoffnungslosigkeit vieler aufgeklärter Russen, die das Land verlassen. Denn schließlich sei auch Angst »ein bevorzugter Werkstoff«, mit dem der Präsident das Land in seinem eisernen Griff hält.

Für Fassungslosigkeit sorgt die Lektüre, wenn die Sprache auf die deutsche Politik kommt, die sich trotz aller offensichtlichen Warnzeichen mehr als nur fahrlässig in die Abhängigkeit von russischen Energieträgern begeben hat. Einige waren blauäugig, andere dumm, wieder andere wurden getäuscht - und Ex-Kanzler Gerhard Schröder bleibt sein ganz eigenes Rätsel.

Putin eskaliert derweil stoisch weiter. In seiner Ansprache zur Annexion der okkupierten ukrainischen Donbass-Gebiete am 30. September warf er dem Westen allen Ernstes »Genderoperationen«, Rituale von »Perversion« und »Satanismus« vor, der Angriff auf die Ukraine - und damit den Westen - sei daher ein »heiliger Krieg«. Ob Sarah Wagenknecht und Alice Schwarzer also wirklich wissen, mit wem die Ukrainer Frieden schließen sollen?

Michael Thumann: Revanche - Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat. 288 Seiten. 25 Euro. C.H.Beck.

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BuchtippsRedaktion_ov_180222 © Red

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