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Privatsphäre nach der Flucht

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Geburtstagsfeier im Speiseraum: Eugen ist aus der Ukraine nach Gießen geflohen und hat nach einem Zwischenstopp im Liebig-Hotel nun eine Wohnung mit seiner Frau und den beiden Kindern bezogen. © Pfeiffer

Im Liebig-Hotel in Gießen gibt es derzeit kaum reguläre Gäste, trotzdem ist das Haus voll: Inhaber Murat Kaya lässt ukrainische Geflüchtete hier kostenlos wohnen.

Gießen . Sicherheit. Dieses Wort fällt im Liebig-Hotel derzeit häufig. Auch Natalja benutzt es: »Jetzt sind wir in Sicherheit.« Anschließend fällt sie Ella Holst weinend in die Arme. Holst, die in Petersweiher lebt, hat mit Kriegsbeginn das Hotel in der Liebigstraße in eine Unterkunft für geflüchtete Ukrainer verwandelt. Inhaber Murat Kaya lässt die Schutzsuchenden hier kostenlos wohnen und versorgt sie mit Essen. Eigentlich, erinnert sich Ella Holst, habe sie nur nach einer Bleibe für zwei Mütter mit ihren Kindern gesucht. Doch aus den einzelnen Zimmern, die Kaya ihr anbot, wurde bald fast das ganze Hotel. Nur wenige Zimmer sind noch mit regulären Gästen belegt. »Wir sind so froh über jeden, der hier bleiben darf.« Im Gegensatz zur Erstaufnahmeeinrichtung des Landes Hessen hätten die Menschen im Liebig-Hotel nach ihrer Flucht auch wieder Privatsphäre.

Natalja ist zusammen mit ihren beiden erwachsenen Töchtern und den drei Enkelkindern aus Krywyj Rih, einer Großstadt in der Südukraine, geflohen. Während die Erwachsenen von ihrer Flucht berichten, spielen die Kinder auf den Drehstühlen in der Hotellobby. Am 10. April, erzählt Nataljas Tochter Sofiia, seien sie in Deutschland angekommen und hätten zunächst zu sechst in einem Hostel-Zimmer in Frankfurt gelebt. Bei der Anmeldung habe man ihnen gesagt, man solle besser nach Gießen, in Frankfurt sei der Andrang zu groß. Vom Liebig-Hotel, in dem sie nun zwei Zimmer bewohnen, hätten sie über Verwandte erfahren. Fast ihr komplettes Hab und Gut hätten sie in ihrer Heimat zurückgelassen, sich lediglich mit zwei Reisetaschen auf den Weg Richtung Westen gemacht.

Täglich ist Ella Holst im Hotel und unterstützt die Geflüchteten. Regelmäßig hat sie auch Sachspenden im Gepäck - Hosen, T-Shirts. Taschen, aber auch gefüllte Kulturbeutel mit Shampoo, Zahnpasta und Co. Unterstützt wird sie dabei von Polina Zavarukhina. Die 24-Jährige kommt gebürtig aus Russland und studiert an der Technischen Hochschule Mittelhessen. Sie übersetzt für die Ukrainer, die allesamt auch Russisch sprechen, und begleitet sie bei Behördengängen. »Ohne Polina wäre ich aufgeschmissen«, sagt Holst. Dringend benötigt werde aber noch ein Übersetzer, der vormittags helfen kann. Denn Zavarukhina arbeitet als Werkstudentin und kann erst nach ihrem Feierabend helfen.

Was es bei der Anmeldung der Neuankömmlinge zu beachten gilt, das musste die Studentin erstmal lernen. Mit dem Sozialamt beispielsweise habe sie zuvor noch keine Berührungspunkte gehabt. Auch die Mitarbeiter in den Behörden seien anfangs überfordert gewesen, mittlerweile funktioniere es deutlich besser.

Da die Unterkunft im Hotel kein Dauerzustand sein kann, suchen die Ehrenamtlichen private Unterkünfte für die ukrainischen Familien. Einige haben sie bereits in eine Wohnung vermitteln können - so wie Alla mit ihren Töchtern, der 20-jährigen Olha und der 14-jährigen Uliana. Die Drei leben nun bei einem Paar in Alten-Buseck, während der Ehemann und Vater in Kiew geblieben ist. Mit dem Zug seien sie von der ukrainischen Hauptstadt Richtung Polen gefahren, erzählt Alla. Die Lichter in den Abteilen hätten während der Fahrt aus bleiben müssen, damit das russische Militär den Zug nicht angreift. Der Krieg in ihrer Heimat sei vor allem für ihre beiden Töchter schlimm. Seit ihrer Ankunft in Polen und später in Deutschland gehe es ihnen aber besser: »Es gibt hier so viele Freiwillige, die uns helfen. Damit haben wir nicht gerechnet.« Uliana geht mittlerweile in Buseck zur Schule - und hat das Ende der Osterferien regelrecht herbeigesehnt, um wieder unter Gleichaltrigen zu sein.

Ella Holst und Polina Zavarukhina halten auch nach dem Auszug aus dem Liebig-Hotel weiter Kontakt zu den Ukrainern und notieren von allen die neuen Adressen. »Wir sind ja schon fast eine Familie. Da ist es klar, dass man nachfragt, wie es ihnen geht.« Eine Mutter und ihr Kind habe man auch zurück ins Hotel geholt, nachdem sich die neue Unterkunft als schimmeliger Kellerraum entpuppt hatte.

Was als spontane Hilfsaktion begann, hat sich mittlerweile gut eingespielt. Auch dank Hotelinhaber Murat Kaya. Es ist nicht das erste Mal, dass er seine Räumlichkeiten gratis für Menschen in Not bereitstellt. Im vergangenen Jahr hatte er im Winter Obdachlose im Liebig-Hotel wohnen lassen. Den Geflüchteten hat er nun sogar einen Tischkicker für den Speiseraum spendiert und stellt ihnen die Mitarbeiterküche zur Verfügung. Außerdem müssen die vielen Sachspenden gelagert werden: Zwischenzeitlich standen gespendete Kinderfahrräder sogar hinter der Rezeption. »Die Mitarbeiter ertragen es mit stoischer Ruhe«, berichtet Ella Holst. Der Verein »an.ge.kommen« bietet zudem zweimal wöchentlich Sprachkurse an.

Für die Sprachkurse kehren dann auch diejenigen zurück ins Liebig-Hotel, die bereits eine neue Bleibe gefunden haben. So wie Eugen, der Cousin von Sofiia. Zusammen mit seiner Frau und den beiden Kindern lebt er nun in einer Wohnung in der Gießener Innenstadt. An diesem Tag feiert er seinen 42. Geburtstag mit Pizza und Cola im Speiseraum des Hotels. Die Stimmung ist ausgelassen, es wird gelacht. Für einen kurzen Moment scheint der Krieg in der Heimat vergessen.

»Teils fließen hier täglich Tränen«, erzählt Dolmetscherin Zavarukhina. Manche seien traumatisiert, andere hätten viel Gesprächsbedarf. Nicht immer seien die Gespräche einfach: »Ich finde keine passenden Wörter. Ich kann ihnen nicht sagen, dass alles gut wird.«

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