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Promis, Zauberer und Gangster

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Von: Björn Gauges

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Kein fiktiver Leinwand-Thriller, sondern tatsächlich Bodyguards eines Paten beim Kontrollieren einer Straßenkreuzung: »Freie Fahrt für den Boss«. Tokyo, Ikebukuro, Japan 1988, aus der Serie »Yakuza«. Alle Fotos: Albert Venzago, Ernst Leitz Museum © Albert Venzago, Ernst Leitz Museum

Ein Mann für fremde Welten: Das Ernst Leitz Museum in Wetzlar zeigt eine spektakuläre Fotografie-Ausstellung des Schweizers Alberto Venzago.

Wetzlar. In dieser Biografie stecken so viele Geschichten, Erlebnisse und Abenteuer, dass sie locker für mehrere erfüllte Leben ausreichen würde. Der Schweizer Alberto Venzago (73) lebte in New York, Japan, Australien und Westafrika, fotografierte die Schrecken des Krieges und die Schönheit der Natur. Er arbeitete als Fotojournalist, für die Werbung und die Kunst - und wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Im Ernst Leitz Museum in Wetzlar ist nun eine eindrückliche Auswahl seiner Fotografien zu sehen. Die rund 150 Aufnahmen führen in Welten, die man so noch nicht gesehen hat.

Tina Turner und Mick Jagger

Zu entdecken ist beim Betreten des großen, in mehrere Themenbereiche unterteilten Galerieraums allerdings zunächst ein bekanntes Gesicht: das großformatige Porträt von Tina Turner. Wie die meisten von Venzagos Arbeiten ist es ein Schwarz-Weiß-Bild: Die Augen der Sängerin sind geschlossen, zugleich kommt ihr die Kamera so nah wie nur irgend möglich. Es ist eine perfekt ausgeleuchtete Aufnahme, die ihrer Persönlichkeit intensiv nachspürt. »Das bekommt man nicht einfach so in ein paar Minuten hin«, erklärt Venzago beim Presserundgang. Der mittlerweile wieder in seine Geburtsstadt Zürich zurückgekehrte Fotograf ist mit der in der Schweiz lebenden Tina Turner befreundet und hat sich viel Zeit genommen, um dieses in ihrer Villa entstandene Porträt aufzunehmen. So wie er immer wieder ungemein viel Ausdauer bewies, wenn seine Neugier als Fotograf einmal geweckt war.

Das kann nicht nur Stunden und Tage dauern, sondern auch ganze Jahre. So gelang es Venzago in den 80ern, als »Schattenmann« Einblicke in die Welt der Yakuza zu bekommen - und mit einer dabei entstandenen Fotoserie berühmt zu werden. Ein ganzer Raum der Ausstellung ist einer dieser japanischen Mafia-Gangs gewidmet. Zu sehen sind ihre Bade- und Tätowierrituale ebenso wie eine Versammlung in einem Hotelsaal, bei denen ein Pate zu seiner vielhundertköpfigen Gang spricht. Es handelt sich um das Neujahrsfest des Shin-sei-kei-Syndikats. »Da war alles vertreten«, erzählt Venzago: »Killer, Drogendealer, Zuhälter«, und doch habe er eine Nähe zu einigen dieser Männern aufgebaut, die sogar zu Freundschaften geführt habe.

Fingerglieder als Entschuldigung

So gelangen dem Schweizer unglaubliche Einblicke in diese Gangsterfamilien. Er zeigt etwa eine Nahaufnahme, auf der ein fein säuberlich abgetrenntes Fingerglied neben einer Hand liegt. Denn hat einer der Gangmitglieder einen Fehler begangen, muss er sich selbst dieses Glied abtrennen und dem Paten, in ein Seidentuch gewickelt, überreichen. Wird die Gabe angenommen, ist der Fehler vergeben. Manche Gangster mussten allerdings gleich mehrfach um Entschuldigung bitten. So hält ein Mann stolz eine Hand in die Kamera, an der ein halbes Dutzend Fingerglieder fehlt.

Jahrelang folgte der Schweizer diesem Syndikat - ebenso wie er jahrelang in Westafrika lebte, wo er an mystischen Voodoo-Zeremonien teilnahm. Mit einer Vespa wollte er damals den Kontinent durchqueren, erzählt der charismatische Künstler. »Eine schlechte Idee, ich habe mich auf den Sandpisten immer wieder auf die Schnauze gelegt.« Dafür landete er in Benin - und lebte fortan in einer weltabgeschiedenen Siedlung.

Auch diesem Thema wurde ein eigener Raum der Ausstellung freigeräumt. Und so erzählen die Motive meisterlich von einer spirituellen Welt, die nicht weiter von der durchtechnisierten Konsumgesellschaft des Westens entfernt sein könnte. Die Bilder zeigen Zeremonien, bei denen sich die Gläubigen mittels rhythmischer Musik, Tänzen und auch Drogen in einen rauschhaften Zustand versetzen. Venzago, der einst selbst als junger Hippie mit der psychedelischen Droge LSD experimentiert hat (»eine wichtige Erfahrung für mich«), hätte gern an solch einem Ritual teilgenommen. »Doch da wurde mir abgeraten«, erklärt er lachend. Die bessere Entscheidung: Sind doch auch zwei Porträts von jungen Menschen mit leeren Augen zu sehen, die nicht mehr aus ihrer Trance erwacht sind und nun als Pflegefälle in einem Krankenhaus leben. Aber auch der Humor des Schweizers blitzt in den Fotos immer wieder durch. So hat er den schwergewichtigen Agali Agbo auf seinem Thron festgehalten, das Oberhaupt des Volks der Abomey. Ein Mann der eine Nasenmaske trägt, damit er nicht die Luft seiner Untertanen atmen muss.

Der Blick des aus einer Musikerfamilie kommenden Fotografen ist dabei stets von meisterlicher Präzision. Die Ausstellung zeigt dies auch anhand von Motiven, die aus einer uns weit bekannteren Welt stammen. Etwa eine Aufnahme von Mick Jagger auf einer Tournee 1983, die der Spross einer Musikerfamilie begleitet hat. Der Sänger der Rolling Stones ist sichtlich in seinem Element, die Sehnen des nackten Oberkörpers treten stark hervor, der Schweiß läuft in Strömen. »Da sang er »Sympathy for the Devil«, sagt Venzago. »Das passt.«

Warhol mochte Polaroidkameras

Ein anderes perfektes Porträt gelang ihm von Andy Warhol, dem er in New York begegnete. Weil sich Venzago intensiv auf dieses Treffen mit dem als äußerst schwierig geltenden Künstler vorbereitet hat, brachte er eine Polaroid-Kamera mit, »denn Warhol liebte diese Kameras«. So kamen die beiden unmittelbar ins Gespräch, während Venzago auf den Auslöser drückte und ein Bild schuf, dass wegen der Kraft seiner tiefroten Farbe ausnahmsweise einmal nicht in Schwarz-weiß gehalten ist. In Wetzlar schaut der stark vergrößerte Warhol den Betrachter von einer riesigen Wand aus an.

Was diese wunderbare Ausstellung nicht offenbart, sind dagegen die dramatischen und bisweilen auch schockierenden Szenerien, die der Reporter in großen Magazinen veröffentlichte. Als Kriegsberichterstatter etwa, was ihn so traumatisiert hat, »dass ich für mehrere Jahre keine Beziehung mehr führen konnte«. Oder als Zeuge der Kinderprostitution in Manila Anfang der 90er Jahre. Mit seiner Arbeit um die westlichen Freiern ausgelieferten jungen Opfer trug er dazu bei, dass die deutsche Rechtsprechung verändert wurde, wie er bei der Einführung erklärte. »Es war das einzige Mal, dass ich das Gefühl hatte, wirklich etwas zu bewegen.«

Was aber all die unterschiedlichen für die Schau in Wetzlar ausgewählten Aufnahmen zeigen, ist die große Lebenslust und die Begeisterung für Menschen und Zivilisationen, an denen Alberto Venzago die Besucher dieser brillanten Schau teilhaben lässt.

Die Ausstellung »Alberto Venzago: »Stylist der Wirklichkeit« ist bis zum 14. Mai im Ernst-Leitz-Museum auf dem Gelände der Leica Welt (Am Leitz-Park 6) in Wetzlar zu sehen. Die Öffnungszeiten sind von Montag bis Sonntag täglich von 10 bis 18 Uhr. Der Eintritt beträgt 11 (8) Euro. Weitere Infos im Internet unter https://leica-welt.com/. (bjn)

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Der Voodoo-Zauberer Fofo beherrscht die Gabe, allein durch Worte über jede Distanz hinweg den Tod …, Benin 2002. © Red
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Ein schwieriger Künstler: Andy Warhol. Alberto Venzago näherte sich ihm in New York mit einer Polaroidkamera. © Red

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