Puristische Kirchen-Architektur
Mit neugierigen Blicken schauten sich die Teilnehmenden des Kurses »Moderne Kirchen in Gießen« der Volkshochschule (VHS) in der Thomas-Morus-Kirche um.
Gießen . Mit neugierigen Blicken schauten sich die Teilnehmenden des Kurses »Moderne Kirchen in Gießen« der Volkshochschule (VHS) in der Thomas-Morus-Kirche um. Vier Gießener Kirchen der 50er und 60er Jahre waren Dreh- und Angelpunkt der Zusammenkunft: Petruskirche, Wichernkirche, St.-Albertus-Kirche und St. Thomas-Morus-Kirche. Letzte konnte während des Kurses vor Ort besichtigt werden, während die Besucher dem Referenten Paul-Martin Lied, der über die architektonischen Besonderheiten des Gebäudes sprach, lauschten.
Mystische Aspekte
»Über das Thema Kirchenbau kann man sehr viel erzählen«, sagte der Referent, der in Darmstadt Architektur studiert hat. Seit 2010 bietet er Architekturführungen in Frankfurt und Umgebung an. Moderne Kirchen, die der liturgischen Bewegung folgend geplant wurden, brechen mit den früheren Regeln des Kirchenbaus: Der Altar befindet sich zentraler in der Kirche als zuvor, um näher an der Kirchengemeinde zu sein. Die Einrichtung ist puristischer, und der Einsatz von Elementen wie Fenstern und Lichtfluss bringen mystische Aspekte mit sich. So wirkt es dank der Fenster in der Petruskirche, als ob die Decke schwebte.
Die St.-Albertus-Kirche wurde 1958 als zweite katholische Kirche in Gießen erbaut. Nach dem zweiten Weltkrieg erhöhte sich aufgrund von Flüchtlingen die Zahl der Katholiken in der Stadt von zehn auf 20 Prozent. Da weite Teile Gießens zerstört waren und die Zahl der Gläubigen so drastisch anstieg, wurde ein weiteres katholisches Gotteshaus benötigt. 1957 räumten Freiwillige den Platz, auf dem die St.-Albertus-Kirche später erbaut wurde. Magnus Albertus, der 1941 als Schutzpatron der Naturwissenschaftler ausgerufen wurde, wurde als Namensgeber für die Kirche gewählt.
Sägemehl auf den Bänken
Früher war das Gebäude mit Sandstein bedeckt, dieser ist jedoch inzwischen abgeplatzt und ersetzt worden. Der Innenraum der Kirche erinnert durch die Stelzen und den Aufbau der Decke, deren Musterung Faltenwurf zu imitieren scheint, an ein Zelt, in das sich die Gemeinde setzt.
Die Einweihung der Petruskirche 1962 lief nicht so glatt wie geplant: Der eingeladene Posaunenchor kam nicht, eine Lampe fiel herab und die Bänke waren so neu, dass Sägemehl an der Kleidung der Menschen hängen blieb, nachdem sie sich gesetzt hatten. Auch die Planung hatte sich ein wenig schwierig gestaltet. Pfarrer Otto Trapp und Architekt Alfred Schild waren sich uneinig, wie die Kirche auszusehen habe. Heute gehört sie wegen ihrer künstlerischen und kirchengeschichtlichen Bedeutung zu den hessischen Kulturdenkmälern.
Nach dem Erfinder des Adventskranzes Johann Hinrich Wichern ist die vom Einsturz bedrohte Wichernkirche benannt. Diese wurde 1964 eröffnet und musste sowohl eine Gemeinde von Flüchtlingen als auch Gelehrten in einem Haus vereinen. In einem Wettbewerb um die Gestaltung der Kirche traten vier Architekten gegeneinander an. Ähnlich der Petruskirche führt ein geduckter Eingang durch eine raue, abweisend wirkende Wand hinein in die Kirche. Beides hat den Anschein, die Kirchengemeinde vor der Außenwelt zu schützen.
Die Thomas-Morus-Kirche wurde als dritte katholische Pfarrkirche Gießens 1967 in deutscher Sprache geweiht. Der Namensgeber der Kirche wurde erst in den 1930er-Jahren heiliggesprochen, und ist der Autor des Schriftstücks »Utopia«, welches dem Konzept der Utopie den Namen leiht.
Seit Kindheit beeindruckt
»Die Meinung zu modernen Kirchen geht weit auseinander. Manche schätzen sie sehr, andere weniger«, beschreibt der Architekt. Schon als Kind sei Lied immer wieder an der Thomas-Morus-Kirche vorbeigefahren und beeindruckt von dem Gebäude gewesen. Die Idee, über moderne Kirchen in Gießen zu referieren, kam aus seiner eigenen Neugier. Es war sein zweiter Kurs an der Gießener Volkshochschule. Zuvor hatte er über den alten Flughafen unterrichten können. Als die VHS erneut mit einer Anfrage für einen Kurs an ihn herantrat, habe er sich sehr gefreut, über moderne Bauten reden zu können. Dies sei nicht an jeder Volkshochschule der Fall, oft hieße es »alles bis Jugendstil geht, danach interessiert sich keiner dafür. Deswegen bin ich begeistert, dass der Vortrag mit 13 Teilnehmenden gut besucht ist.«
