Rampe mit Abschlusswand

Gießen . Eine Straße ist ein »befestigter Verkehrsweg«, sagt das etymologische Wörterbuch, ehe es etwas von »via strata« stammelt, ins Lateinische abgleitet, um von gepflasterten Heereswegen zu schwadronieren. Aber das führt ja alles zu nichts. Im Gegensatz zur Straße, die ja immer irgendwohin führt. Außer sie ist eine »Road to nowhere« (Lied, Talking Heads) oder sie fährt »Gegen die Wand« (Film, Fatih Akin).
Und da wären wir beim Thema: Denn wenn eine Straße einfach so an einer Mauer endet, muss man sie aber mal sowas von kritisieren. Auch wenn sie nichts dafür kann, die arme Straße, weil sie ja niemals die Erbauerin ihrer selbst ist. Denn eine Straße ist in der Regel einfach nur eine Straße, ein plattes Etwas, auf dem man sich, weil befestigt (siehe oben), mit Fahrzeugen schneller und sinnvoller bewegen kann als nebenan »uff de Wies’«, wie der Hesse sagt. Und schließlich kommt man irgendwann an, wenn die Straße von A nach B führt. Außer wenn das B für Beton steht, an den man bei unverminderter Geschwindigkeit dranknallen würde. Würdelos.
Die Paul-Meimberg-Straße ist das abrupt endende Beispiel einer beispiellosen Verplanung. Und dafür kann weder der Namensgeber etwas, der als Agrarwissenschaftler und sogar Präsident der Justus-Liebig Universität 1978 im Alter von nur 62 Jahren verstarb, noch die Straßenplanungskohorte, die sich mit dem an der Wand endenden Ding unterhalb des Wohngebietes Schlangenzahl auseinandersetzte.
Denn an dieser Straße ist gar nichts einfach, nicht einmal, wem sie gehört. So weiß das UKGM auf Anfrage: »Es gibt für die Paul-Meimberg-Straße unterschiedliche Zuständigkeiten: Die Aulweg-Unterführung bildet dabei eine Art Schnittstelle. Von dort Richtung Klinikum (Haupteingang, Klinikstraße 33) gehört die Straße per Erbbaurecht dem UKGM. Vom Aulweg Richtung Zahnmedizin/BFS gehört sie dem Land Hessen. Für den Teilbereich Klinikum (also vom Kreisel bis zum Aulweg) der Paul-Meimberg-Straße gibt es einen Bebauungsplan, der vorsieht, dass diese Straße aufgewertet werden soll. Pläne liegen hierfür noch nicht vor.«
Mal ehrlich, die arme Straße. Das klingt, als sei sie das Kind einer völlig chaotischen Patchwork-Familie. Und dann die Tatsache, dass es einen »Bebaunungsplan« gibt, der vorsieht, sie aufzuwerten. Aber Pläne dafür liegen noch nicht vor.
Man kann die damit befassten Menschen aber auch verstehen. Wer nimmt eine Straße ernst, die nirgendwo hinführt? Und was bedeutet das rein philosophisch? Endet die Straße an der Betonwand oder löst sich die Straße, da sie ja per se ein Weg mit Ziel ist, vorher im Straßennirwana auf? Ist folglich beim Auftreffen auf die Wand schon gar nicht mehr da? Buddha wüsste es. Nietzsche vielleicht auch, aber ein Straßenplaner?
Auf jeden Fall ist sie doof, die Straße. Denn schon aus der Ferne sieht man ihr Ende, das unterhalb des Wohngebiets versackt. In den späten 1960ern, so ergab die Recherche des Stadtarchivars Dr. Christian Poepken, wurde das Ding als Privatstraße der Justus-Liebig-Universität angelegt, um den damaligen Expansionsdrang vorzubereiten. Denn der Plan - jetzt wird es spannend - »G38 Südviertel« sollte dafür sorgen, dass die Uni sich mit weiteren Instituten und Fachbereichen auf dem Gebiet Schlangenzahl bis zum Bergwerkswald ansiedelt. Daraus wurde aber nichts. Heutzutage wäre die Vermutung, dass eine nur noch am Schlangenzahl vorkommende Kellerassel-Art die Pläne stoppte. Ein Kellerasselartenschutz einer Bürgerinitiative, deren Bürger am Schlangenzahl wohnen würden, könnten die Straße verhindert haben. Oder so ähnlich. Aber egal: So oder so ist die Erweiterung gescheitert.
Auch Pläne der Klinik endeten als »Road to nowhere«. So kam die Stadt Gießen, schnappte sich die Fläche im Tausch mit irgendwas vom Land Hessen, das auch seine Grundstücksfinger im Spiel hatte - und schon wurde Schlangenzahl zum Bebauungs- und dann Wohngebiet. Und die Paul-Meimberg-Straße, damals noch in Amt und Würden, wurde zurückgebaut und mit dem »Betonwand-Abschluss« versehen. Feierabend für die Straße, bevor sie richtig als Straße beschäftigt war.
Und so sieht sie nun eben aus, wie sie aussieht: Schrecklich! Sie strebt konsequent ihrem Ende auflösender Nutzlosigkeit zu - als »Rampe mit Abschlusswand«. Links eine Mauer, rechts eine Mauer, vorne eine Mauer. Und wir sind nicht mal im Berlin der 1970er. Was aber machen wir jetzt mit dem Ding, das auch sinnbildlich für das Leben steht? Schließlich hat alles ein Ende, nur die Wurst hat zwei.
Die Stadt Gießen teilt dazu mit, dass »bis Ende 2026 ein Rückbau des nördlichen Abschnitts zwischen Gaffkystraße und Aulweg erfolgen soll, auf einen 5m-Querschnitt«. Das mit dem Querschnitt habe ich zwar nicht verstanden, aber ich freue mich drauf. Kann ja nur besser werden.
In loser Folge widmen sich an dieser Stelle die Redakteure Björn Gauges und Rüdiger Dittrich (seltsamen) Orten in Gießen.
