Raus, nur endlich raus

Wir stecken weiterhin in seltsamen Zeiten, die einzuteilen sind in »nach Corona« und »vor Corona«. Das macht sich auch bei Klassenfahrten und Abschlussfeiern bemerkbar.
Gießen . Wem in der vorvergangenen Woche die Stadt Gießen außerordentlich leer vorgekommen sein mag, der hätte zeitgleich in Berlin festgestellt, wie außerordentlich voll es dort gewesen ist. Wem das seltsam erscheint, dem sei dieser Einstieg als Scherz am Rande empfohlen, der aber zum Thema passt.
Denn in der zweitletzten Woche vor den Ferien waren gleich drei Gießener Schulen mit ihren zehnten Jahrgängen auf Klassenfahrt in Berlin. Ein Gewimmel an 15- und 16-Jährigen, die aus Mittelhessen in die Hauptstadt reisten - in die Hunderte ging das, denn Liebig- und Ostschule sowie das Landgraf-Ludwigs-Gymnasium waren ausgerückt, um das zu tun, was bei allen Schülerinnen und Schülern seit Menschengedenken denkbar hoch im Kurs steht: eine einwöchige Klassenfahrt.
Das so etwas zum Thema eines Zeitungsberichtes werden kann, zeigt, dass wir in besonderen Zeiten stecken, dass Selbstverständlichkeiten einem doppelten Beurteilungsmechanismus unterliegen, einzuteilen in »nach Corona« und »vor Corona«. Wobei auch die Formulierung »nach Corona« ja eine, wie wir wissen, trügerische ist. Denn was die Sommerhitze uns auszutreiben scheint, nämlich, dass dieses elende Virus eine relevante Rolle spielt, wirft seinen Schatten bereits voraus. Früher bekamen wir Besuch von Onkel und Tanten, heute stehen - mag man so manchem Virologen glauben (und dem Bundesgesundheitsminister gleich mit) - möglicherweise schon wieder Mutanten vor der Tür. Da bleibt der alte Onkel lieber zuhause.
Mutanten-Schatten
Aber die jungen Leute, die müssen natürlich raus. Endlich wieder. Denn auch diese Klassenreise, tatsächlich doch einer der Höhepunkte im Schulleben, gerade in jenen Übergangs- und Abschlussklassen, hatte natürlich auch schon wieder verschoben werden müssen. Wegen Corona,
Wenn man in der Rückschau nun mit Schrecken feststellt, dass die Kinder und Jugendlichen und mit ihnen die gebeutelten Lehrer und Lehrerinnen mittlerweile das fünfte Schuljahr unter (ganz) anderen Umständen hinter sich bringen mussten, bleibt nur, den Hut zu ziehen. Und zwar davor, dass es trotz aller Probleme immer weiter gegangen ist. Und irgendwie dann doch funktioniert hat. Dass neben den Klassenfahrten auch wieder die Abschlussfeiern, mehr oder weniger pompös, durchgeführt wurden. Dass keine Rede mehr von »Homeschooling« und Distanzunterricht sein musste und irgendwann die Masken fielen. Die ab Herbst aber wohl wieder vermehrt zum Einsatz kommen werden, bei dann einerseits geöffneten Fenstern und andererseits Energiesparmaßnahmen, die das Drosseln der Heizung in den Klassenräumen umfassen könnten.
Was die »Generation Corona« an Zumutungen erleidet, mag im globalen Vergleich, angesichts unseres sanft gebetteten mitteleuropäischen Daseins, harmlos sein, tatsächlich aber nutzt nicht jede Relativierung jenen, die von all diesen Entwicklungen betroffen sind.
Wenn Kinder mit Jacke, Mütze und Handschuhen in Klassenräumen sitzen, hinter Masken versteckt, selbstverständlich auch spürend, dass die Lehrenden angesichts eines Wustes an zu beachtenden Vorschriften am Stock gehen, macht das was mit den Heranwachsenden.
Wir haben in dieser Zeit feststellen müssen, dass unser Selbstbild der reibungslos funktionierenden Gesellschaft an Grenzen gerät, die wir so nicht erwartet hätten. Der angebliche Organisationsweltmeister hat von »Homeschooling« über Digitalisierung bis hin zu einem adäquaten Betreuungsschlüssel alles vermissen lassen, was in vielen anderen Ländern klappte. Die Crux des föderalen Systems wurde deutlich, und die ansonsten gerade im Schulsystem allzu hierarchische Herangehensweise verschob die Verantwortung für oft praxisferne Verordnungen von den Kultusministerien, oft viel zu weit weg von der Realität, einfach mal nach unten. Wo es Schulleiter, Schulleiterinnen und die Lehrenden auszubaden hatten.
Und das in einer ohnehin aufgeregten Zeit, da wir in vielen gesellschaftlichen Zusammenhängen nicht mehr um die großen Ideen streiten, sondern die oft überbordenden Debatten um Identität(en) immer mehr in den Mittelpunkt rücken. Das heißt, dass die Einzelinteressen gestützte Herangehensweise vieler Eltern, wie viele Pädagogen hinter vorgehaltener Hand erzählen, Entscheidungen in ohnehin schweren Zeiten doppelt schwer machen. Dem einen ist der Umgang mit Corona an den Schulen zu lasch, dem anderen viel zu strikt. Statt aber mit Respekt den Entscheidern zu vertrauen, wird die eigene Sicht der Dinge als allgemeingültiger Maßstab vorausgesetzt. Wie aber sollen sich Schulen verhalten, wenn einerseits der Datenschutz verhindert zu wissen, welcher Schüler geimpft ist, man das andererseits auf einer Klassenfahrt bei entsprechendem Besuchsprogramm aber wissen muss, wenn Eltern sich dagegen sperren, dass ihr Kind getestet wird, andere aber verlangen, ihr Kind müsse gleich zweimal am Tag getestet werden?
Identität statt Idee
Es ist ein Ziehen und Zerren an allen Rockzipfeln und Ärmeln derer, die unter diesen Umständen schon genug mit ihren ureigenen Aufgaben zu tun haben: der Vermittlung von Wissen und sozialer Kompetenz. Eine Kompetenz im Übrigen, die die »Generation Helikopter« (Sie wissen schon, die dauerbeauftragten Eltern) allzu oft vermissen lassen.
Bei all dem fällt aber auch auf, wie anpassungsfähig die Kinder und Jugendlichen sind, wie schnell sie Maske und Test in ihren Alltag integrieren, wie dankbar, aber auch verantwortungsbewusst, wenn sie einfach mal wieder losgelassen werden. In einer Zeit, in der die Nachrichten von Klimakrise, brennenden Wäldern und dem Krieg in der Ukraine ihnen zusätzlich auf die Pelle rücken, wo doch Unbeschwertheit das Leben bestimmen sollte. Und in Schulen sich deshalb die Frage gestellt werden muss, wie man dieser »Generation Corona« einen Sinn und Werte vermitteln kann, die Stütze sein können, tragfähig für die ungewisse Zukunft.
In den Ansprachen zum Schuljahres-Abschluss ging es sehr oft um genau dieses Thema. Und bei der Abschlussfahrt? Da ging es auch durchaus um ganz andere Dinge. Um 16-jährige Jugendliche, die in einem Club nach viel Programm ausgelassen feierten. Zum Beispiel.
Dass nach der Rückkehr in der letzten Schulwoche, aufgrund positiver Fälle, viele Plätze in den Klassen freiblieben, nehmen wir bereitwillig hin. Was soll man denn noch alles mit Verboten belegen? In diesen Zeiten.
Die Ferien jedenfalls bekommen, da gibt es keinen Zweifel, einen Stellenwert, der weit über eine schulfreie Zeit hinausgeht. Vor dem nächsten Halbjahr - mit Corona.