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Reizüberflutung an gespenstischem Ort

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»Kein Ort des Lebens«: Francesco Arman in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau. © Zentralrat Deutscher Sinti und Roma/Jaroslaw Praszkiewicz

Der Gießener Francesco Arman hat am Europäischen Holocaust-Gedenktag für Sinti und Roma eine Delegation in Auschwitz-Birkenau begleitet. Im Interview schildert er seine Eindrücke.

Gießen. Zu lange sollte sich niemand an diesem »gespenstischen Ort« aufhalten, rät Francesco Arman. Denn schließlich handelt es sich »nicht um einen Ort des Lebens«. Im Gegenteil: Das ehemalige Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau steht symbolisch für einen »Zivilisationsbruch« und das größte Menschheitsverbrechen der Geschichte - den Holocaust. Für den Gießener Sinto war es eine beklemmende Premiere, als er nun die offizielle Delegation des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma dorthin begleiten durfte. Am 2. August wird daran erinnert, dass in dieser Nacht des Jahres 1944 die letzten 4300 Sinti und Roma trotz erbitterten Widerstands von den SS-Schergen ermordet wurden.

Was bedeutet Ihnen persönlich der 2. August?

Der 2. August ist für mich wie für die meisten Sinti und Roma ein zentraler Gedenktag. Genauso wie der steinige Weg der Anerkennung des Völkermords haben sich der Gedenktag und die Aufmerksamkeit, die er erfährt, entwickelt. Und dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen.

Sie waren selbst zum ersten Mal in Auschwitz-Birkenau, obendrein als Vertreter der offiziellen Delegation des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma. Es gibt sicher einfachere Premieren...

Ich habe eine gewisse Reizüberflutung gespürt - sinnlich und emotional. Besonders eingeprägt haben sich mir die Wege, die wir im Lager beschritten haben. Es waren steinige Wege mit vielen Schlaglöchern, und es waren die gleichen Wege, die auch von den Häftlingen zurückgelegt worden sind - nur in einer anderen Zeit und mit der ständigen Gefahr für Leib und Leben. Als sehr angenehm habe ich dabei die Begegnung mit Piotr Cywinski, dem Direktor der Gedenkstätte, und seiner Assistenz empfunden. Beide sprachen sehr gut Deutsch und begleiteten uns die ganze Zeit. Sie haben uns, gerade auch mir persönlich, sehr viel erklärt und alle Fragen beantwortet.

Wie haben Sie die Zeremonie erlebt?

Das zentrale Gedenken habe ich als sehr würdevoll empfunden. Der Ort an sich war jedoch gespenstisch, denn es handelt sich nicht um einen Ort des Lebens und man sollte sich nicht zu lange dort aufhalten. Sehr gefreut hat mich, dass so viele junge Menschen anwesend waren. Aus ganz Europa sind Jugendorganisationen der Sinti und Roma angereist, überall waren unterschiedliche Sprachen zu hören, die Atmosphäre war dadurch sehr international.

Welchen Eindruck haben die Reden bei Ihnen hinterlassen?

Nachdrücklich ist mir die bewegende Ansprache von Christian Pfeil aus Trier, einem Überlebenden des Genozids, im Gedächtnis geblieben. Er kam 1944 im Ghetto von Lublin zur Welt, nachdem seine gesamte Familie nach Polen deportiert worden war. Selbst als Schwangere musste seine Mutter Schwerstarbeit leisten und wurde misshandelt. Nach der Geburt wurde er in einen Tuchfetzen und Papier eingewickelt. Ein bemerkenswerter Moment war zudem die Rede einer jungen Romni aus der Ukraine, weil dort gerade Krieg, Hunger und Leid herrschen und der Tod in manchen Teilen des Landes zum Alltag gehört. Natürlich hat auch Bundesratspräsident Bodo Ramelow die richtigen Worte an diesem schrecklichen Ort gefunden. Er wirkte sehr authentisch und ehrlich.

Rinaldo Strauß vom Verband Deutscher Sinti und Roma - Landesverband Hessen hat bereits mehrfach bei der Gießener Gedenkfeier für die deportierten Sinti und Jenischen am 16. März betont, dass jede Familie der Minderheit von Verfolgung, Deportation und Mord betroffen gewesen sei. Haben demnach auch Sie in Ihrer eigenen Familie Opfer zu beklagen?

Ja, auch meine Familie hatte Opfer in Auschwitz zu beklagen. Ich konnte ihre Namen in der Ausstellung »Die Verfolgung der Sinti und Roma« in Block 13 an einer gläsernen Wand nachlesen. Die Namen kenne ich zwar schon lange, und es sind auch bereits Stolpersteine für meine Familie verlegt worden, trotzdem war das für mich sehr emotional besetzt. Alle Delegierten haben nach ihren verstorbenen Angehörigen gesucht und so sind einige Gespräche entstanden: Wer gehört zu wem, wer ist miteinander verwandt, wer hat überlebt und wer ist für immer dortgeblieben an diesem furchtbaren Ort. Dieser Austausch untereinander hat zu einem starken Zusammengehörigkeitsgefühl geführt.

Auch nach 1945 haben die Angehörigen der Minderheit Ausgrenzung und Herabwürdigung erfahren. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat gerade zum 40-jährigen Bestehen des Zentralrates um Vergebung für dieses »zweite Leid der Sinti und Roma in der Nachkriegszeit« gebeten. Welchen Stellenwert hat das für Sie?

Dass mit Frank-Walter Steinmeier zum ersten Mal ein deutsches Staatsoberhaupt die Verantwortung übernommen hat für die auch nach 1945 fortgesetzte antiziganistische Diskriminierung, hat einen sehr hohen Stellenwert. Die bis 1982 fehlende Anerkennung des Völkermordes und die Tatsache, dass Antiziganismus direkt nach dem Krieg und darüber hinaus noch weit verbreitet gewesen ist, hat die Sinti und Roma extrem belastet. Für diejenigen, die überlebt haben, war es tatsächlich wie das zweite Leid nach Auschwitz. Auch für die ersten Nachgeborenen dieser »Lagergeneration« war es ein starkes Signal. Sie mussten einerseits damit umgehen, dass ihre Eltern traumatisiert waren, und trafen andererseits auf eine Gesellschaft respektive Politik, die den Völkermord zuerst leugnete und selbst nach der Anerkennung immer wieder Gründe gesucht hat, dies auf verschiedenen Ebenen zu verharmlosen.

Haben Sie selbst auch schon Diskriminierungserfahrungen gemacht?

Diskriminierung kennen alle Sinti und Roma, die Formen können verschieden sein: negativ, ambivalent oder positiv gemeint. Letztlich sind dies alles Stereotype, mit denen wir konfrontiert sind - seit dem ausgehenden Mittelalter über Jahrhunderte tradierte und reproduzierte Bilder, die der Mehrheitsgesellschaft zur Selbstbestätigung dienen und gleichzeitig eine »Sündenbock«-Funktion erfüllen. Wir Sinti und Roma können dabei wahlweise als Bettler, Diebe, Spione, Verräter, gute Musiker oder freiheitsliebende und temperamentvolle Menschen auftreten. Wir spielen sozusagen eine Rolle für die Mehrheitsgesellschaften, diese Rolle haben wir uns allerdings nicht ausgesucht.

Viele Sinti und Roma verschweigen deshalb, dass sie der Minderheit angehören. Was hat Sie dazu bewogen, diesen Teil Ihrer Identität öffentlich zu machen?

Ein stückweit liegt das an meinem Selbstverständnis, diesen Teil meiner Identität zu akzeptieren. Gerade die dritte und vierte Generation geht damit anders um als die Kriegsgeneration und die zweite Generation nach dem Krieg.

Beim virtuellen Gedenken des Dokumentationszentrums Deutscher Sinti und Roma schildert der interviewte Marion Bamberger, dass auch die Angehörigen der zweiten und dritten Generation zu den Opfern des Holocaust zählen. Wie empfinden Sie das?

Ja, das kann ich bestätigen, weil wir als Kinder und Jugendliche mit den »Geschichten« des Krieges aufgewachsen sind. Die Diskriminierungen nach dem Krieg waren ebenfalls als Erzählungen für uns präsent. Ich würde es als eine Form der Prägung beschreiben wollen, die mich letztlich zu einer politisch handelnden Person gemacht hat. Zum Glück haben wir nicht dieselben Traumata erlebt wie die Kriegsgeneration, aber das, was wir gehört haben, ist auch Teil unserer Identität heutzutage. Es geht hier nicht darum, das Leid emotional nochmal aufzurufen, doch es ist wichtig, daran zu erinnern, weil so etwas nie mehr passieren darf.

»Der Antisemitismus wird mit Recht geächtet. Aber der Antiziganismus wird toleriert, er fällt gar nicht auf«, sagte der Zentralratsvorsitzende Romani Rose 2021 in einem Interview mit SWR2. Nehmen Sie das auch so wahr?

In der Tat nehme ich wahr, dass die Diskriminierung von Sinti und Roma eher akzeptiert wird. Dies möchte ich nicht als Vorwurf verstanden wissen und ich möchte auch keine Opferhierarchie einführen. Gleichwohl ist es schon sehr auffällig, wie beispielsweise darüber debattiert wurde, ob der Begriff »Zigeunersauce« nun als rassistisch eingestuft werden soll oder nicht. Selbst namhafte Prominente haben diesen Begriff hartnäckig als ihre Kultur und Tradition verteidigt, um ihn weiterhin benutzen zu dürfen. Vergessen haben sie dabei, dass ihre Kultur auch unsere Kultur ist und wir bei solchen Kulturfragen gerne mitreden würden. Mit der Sprache fängt es oft an, sie formt das Denken und das Handeln.

Die öffentliche Beachtung des Europäischen Gedenktages für den Holocaust an den Sinti und Roma hat in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Um die Situation der Minderheit zu verbessern, reicht diese einmalige Aufmerksamkeit aber sicher nicht aus...

Wir fangen ja nicht bei null an. Der Zentralrat um seinen Vorsitzenden Romani Rose und die dazugehörigen Verbände haben bereits eine sehr gute und erfolgreiche Aufbauarbeit geleistet, um dem Antiziganismus zu begegnen. Gerade die jüngere Generation, zu der ich mich selbst zähle, profitiert davon und stößt auf eine viel größere Akzeptanz. Der behördliche respektive strukturelle Antiziganismus ist nicht mehr so ausgeprägt wie früher. Das bedeutet natürlich nicht, dass es keinen Antiziganismus mehr gibt und die Bürgerrechtsarbeit überflüssig wäre. Immer noch leben viele Sinti und Roma am Rande der Gesellschaft und werden als Fremde wahrgenommen, obwohl sie die gleiche Staatsbürgerschaft haben wie die Mehrheitsgesellschaft. Dies ist auch gerade in Osteuropa zu beobachten.

Können Sie das an Beispielen verdeutlichen?

Es ist wichtig, zwischen den einzelnen europäischen Ländern zu differenzieren. In Ungarn, Bulgarien, Tschechien oder der Slowakei leben beispielsweise viele Roma aufgrund einer massiven Nicht-Akzeptanz in wahren »Elendsquartieren« ohne sanitäre Einrichtungen, in »Bretterbuden« illegal in Wäldern oder auf Müllkippen. Dies hat auch nichts mehr mit einer Benachteiligung zu tun, sondern mit einer strukturellen Ausgrenzung, die in Kauf nimmt, dass ein Teil der Bevölkerung komplett verelendet. Aber auch für Deutschland zeigt die 2018 veröffentlichte »Leipziger Autoritarismus-Studie«, dass noch über 60 Prozent der Befragten davon überzeugt sind, dass Sinti und Roma zur Kriminalität neigen. Mehr als 50 Prozent wollen Sinti und Roma nicht in ihrer Nachbarschaft haben.

Virtuelles Gedenken mit Musik aus Gießen unter www.youtube.com/watch?v=wHJQ2jw1htk

Das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg präsentiert parallel zur offiziellen Veranstaltung im ehemaligen Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau ein virtuelles Gedenken. Dabei berichten Sinti und Roma aus Deutschland und der Ukraine über ihre Erfahrungen im Holocaust, in der Nachkriegszeit sowie im Angriffskrieg Russlands. Musikalisch umrahmt werden die Interviews vom Gießener Geiger Georgi Kalaidjiev und den Kindern seines Projektes »Musik statt Straße«. Der Beitrag mit deutschen Untertiteln ist auf Youtube unter www.youtube.com/watch?v=wHJQ2jw1htk abrufbar. (bl)

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