Rendevouz mit der Moosjungfer

Im Landkreis Gießen gibt es 46 Libellenarten. Die farbenprächtigen Insekten sind wertvolle Bioindikatoren. Über die heimischen Kerbtiere berichtete Jost Holtzmann.
Gießen . Briefmarkensammlungen halten Jahrhunderte, die von Schmetterlingen zumindest Jahrzehnte. So eine farbenfrohe Sammlung kann eine Augenweide sein. Und was ist mit den Libellen? Die zählen hierzulande zu den größten und farbenprächtigsten Insekten. Zudem die besten Flieger unserer heimischen Kerbtiere. »Doch schon kurze Zeit nach ihrem Ableben werden sie unansehnlich, düster, die Körper lösen sich auf,« berichtet Jost Holtzmann in der Agenda21-Gruppe »Natur und Umweltschutz« in seinem Vortrag über Libellen.
In seinem Hauptberuf ist er als Richter am hiesigen Landgericht. In seiner Freizeit befasst sich der Strafrechtler mit dieser Kerbtier-Spezies - seit mehr als 35 Jahren schon. Der rasche Zerfall der Körperhülle habe deshalb »kein besonderes Faszinosum« (Faszinierendes) für die frühen Wissenschaftler bedeutet. Infolge der nur geringen Beachtung sei in der Entomologie (Lehre über die Insekten) nur wenig über Altfunde bekannt. Einerseits sei es eine sehr alte Tiergruppe - vorhanden seit dem Karbon und mit einem Bauplan, der seit Millionen Jahren gleich sei. Anderseits existierten kaum alte Daten. Erst so ab 2005, als die Digitalkameras stärker aufgekommen seien, habe ein größeres Interesse an der Verbreitung dieser Tiere begonnen.
Bei den auch zu den Kerbtieren zählenden Käfern gebe es viele tausend Arten, während es bei den Libellen in Europa nur eine dreistellige Zahl sei. Man unterscheide zwei Hauptgruppen, die Kleinlibellen und die Großlibellen. Während die vier Flügel der Kleinlibelle immer parallel zum Abdomen (Hinterleib) gehalten werden und die Augen auseinanderstehend angeordnet sind, berühren sie sich bei den Großlibellen, deren Flügel zum Abdomen abstehen. Durchweg bildhafte Namen tragen sie: Hufeisen-Azurjungfer, Adonislibelle, Blaupfeil, Granatauge, Spitzenfleck, Binsenjungfer und alle Arten sind ganz harmlos. Stechen können sie nämlich nicht.
»Eine Fluktuation im Artenspektrum ist nicht außergewöhnlich bei den Libellen.« Denn sie seien hochgradig mobil. Ständig flögen »fremde Individuen« ein. Aber nur bei passenden Wetterbedingungen könnten sie sich auch dauernd etablieren.
Als wertvolle Bioindikatoren gelten sie zudem - auch für klimatische Veränderungen. Bei kaum einer anderen Tiergruppe habe der Klimawandel zu einer derart schnellen und radikalen Veränderung des hiesigen Artenspektrums geführt: Einstige »Mittelmeerlibellen« seien inzwischen in Hessen allgegenwärtig; früher häufige Arten befänden sich auf dem Rückzug oder verschwänden ganz. Bei der Erhaltung von Seltenheiten kommt dem Landkreis Gießen überregionale Bedeutung zu - Gewässer wie die Grube Fernie bei Linden oder der Heßler nahe Heuchelheim beherbergten Raritäten mit besonderen Ansprüchen. Eine große Bandbreite selbst aufgenommener Fotografien von Libellenarten stellte Holtzmann vor.
In Gießen seien hauptsächlich in der »Hundebadeanstalt«, einem Regenrückhaltebecken im Areal Schlangenzahl, viele Libellenarten vorzufinden. Hier treffe man auch die schnellste Libellenart an, den Plattbauch. Die Kleine Pechlibelle sei seit einigen Jahren verschwunden, dafür sei jetzt die anspruchslose Große Pechlibelle anzutreffen. Insgesamt seien seit 2007 24 Arten nachgewiesen worden, nie jedoch alle gleichzeitig. »Das ist über die Hälfte der im Raum Gießen vorkommenden 46 Arten.« Im Holzwäldchen bei Krofdorf mit zahlreichen Flach- und einem Tiefgewässer fänden sich 32 Spezies. In ganz Hessen sind es insgesamt rund 60, in Deutschland etwa 80. Bei Biotopen tue sich immer die Frage auf: Will man da einen Dauerzustand erhalten? Das bedeute ständige Pflege. Oder der Natur freien Lauf lassen? Im zweiten Fall wechselten mit der Zeit die Libellenarten, da sie jeweils spezielle Bedingungen bräuchten. An der Lahn wie in ganz Hessen sei die Gebänderte Prachtlibelle wieder heimisch geworden. Auch die Gemeine Keiljungfer habe Holtzmann dort in 2008 erstmals entdeckt. Der Fluss sei wieder gut mit Libellen besiedelt. Generell jedoch fänden sich in Fließgewässer nur wenig Arten. In der Grube Fernie im Bergwerkswald sei nach dem Manganabbau bis in die Fünfziger Jahre alles geflutet worden. Hier seien »mehrere optimale Faktoren« anzutreffen. So große Gewässertiefe, extrem sauberes, klares Wasser und eine Kombination aus beschattetem Rand und großer besonnter Fläche. Mindestens 31 nachgewiesene Libellenarten tummelten sich hier. Die Zierliche Moosjungfer, seit 2016 dauernd präsent, sei in Hessen nur noch an zwei weiteren Stellen im Süden anzutreffen. Ein Rendevouz mit ihr ist also vor den Toren Gießens möglich. 2021 sei erstmals eine Eiablage von ihr an einem anderen Gießener Gewässer festgestellt worden, am Petersweiher. Im Landkreis nur an der Grube Fernie sei der Spitzenfleck zu beobachten. Foto: Schäfer