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Rückblick auf bewegtes Leben

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Gedenkstunde zum 100. Geburtstag des Gießener Ehrenbürgers (von links): Horst-Eberhard Richters Enkelin Merle Forchmann, Theo Strippel und Richters Sohn Clemens. Foto: Schneider © Schneider

Freitag gedachte sowohl die Stadt, als auch das Horst-Eberhard-Richter-Institut des 100. Geburtstags des 2011 verstorbenen Gießener Ehrenbürgers in jeweils einer eigenen Veranstaltung.

Gießen . Erst Soldat, dann Psychoanalytiker und Friedensaktivist: Horst-Eberhard Richter hatte ein bewegtes Leben. Vergangenen Freitag gedachte sowohl die Stadt, als auch das Horst-Eberhard-Richter-Institut des 100. Geburtstags des 2011 verstorbenen Gießener Ehrenbürgers in jeweils einer eigenen Veranstaltung. Sowohl Vertreter der Stadt als auch Bekannte, Kollegen, Freunde und Familie erinnerten in ihren Reden an einen »besonderen Menschen, der immer den Blick für das Zwischenmenschliche hatte«, wie es Prof. Wolfgang Weidner formulierte, der jetzige Dekan des Fachbereichs Medizin an der JLU und ehemalige Student Richters.

Gräuel des Krieges kennengelernt

Richter, der als Einzelkind eines Siemensingenieurs in Berlin aufwuchs, wurde mit 18 Jahren zur Wehrmacht eingezogen und diente während des Krieges bei der sechsten Armee. Hier lernte er die Gräuel des Krieges kennen und begriff, was Abstumpfung für Soldaten bedeutet. »Die schaurigsten Bilder des Krieges dringen nicht mehr durch das Sensorium durch«, schrieb Richter Jahrzehnte nach dem Krieg in seinem Buch »Wanderer zwischen den Fronten«.

Doch die schlimmste Katastrophe der sechsten Armee blieb Richter erspart. Gegen den Willen seines vorgesetzten Offiziers hatte Richter einen erkrankten russischen Jungen untersucht und sich dabei mit Diphtherie infiziert. Wegen der Erkrankung wurde Richter vorübergehend dienstuntauglich geschrieben, was ihm den Kessel von Stalingrad ersparte. »Mein Retter war der kleine russische Junge gewesen. Ob er noch am Leben war?«, sinnierte Richter in seinem Buch.

Nach seiner Zeit in Kriegsgefangenschaft erwartete Richter zu Hause eine weitere Katastrophe: Zwar hatten seine Eltern die Bombardierung Berlins überlebt, doch sie wurden während eines Spaziergangs Opfer russischer Soldaten, die das Ehepaar erstachen - Monate nach Kriegsende. Der aus dem Krieg heimgekehrte Richter stand nun also verwaist, mittellos und ohne Wohnung oder Unterkunft da. Doch Richter fand trotz widriger Umstände und den Kriegstraumata wieder einen Weg zurück in die Normalität: Er studierte Medizin, Psychologie und Philosophie an der Universität Berlin und erwarb bereits 1949 mit einer Dissertation über »Die philosophische Dimension des Schmerzes« seinen ersten Doktortitel.

»Man verfällt gerne in einen Telegrammstil, weil es so vieles gibt, was man aufzählen könnte«, beschrieb Oberbürgermeister Frank-Tilo Becher die Schwierigkeiten beim Umreißen von Richters Lebenswerk in seiner Eröffnungsrede der Gedenkveranstaltung. Als »Wegbereiter der Psychosomatik« bezeichnete ihn Becher; als »theoriegeleitet, aber auch sehr praktisch« skizzierte er die Arbeitsweise Richters.

»Professor könnt ihr weglassen«

Neben seinen akademischen Verdiensten engagierte sich Richter in der Friedensbewegung und an sozialen Brennpunkten wie dem Gießener Eulenkopf. Theo Strippel, der als Kind auf den Eulenkopf kam und dort Richter kennenlernte, erinnerte sich in seiner Rede »frei vom Herzen weg«, dass Richter »immer sehr herzlich« war. So habe er bei seiner Arbeit am Eulenkopf auch nie auf sein Titel wert gelegt. »Das Professor könnt ihr weglassen«, zitierte Strippel den verstorbenen Richter. Dr. Hans-Peter Möhring, der Richter lange kannte, erinnerte sich an ihn als »Autorität für Antiautoritäre«, denn »er besaß Autorität, ohne autoritär zu sein«. »Unkonventionell, wach und neugierig« sei Richter gewesen und er »wollte wissen, was in jungen Leuten vorgeht«, was sich auch in Richters erfolgreichstem Buch »Eltern-Kind-Neurose« widerspiegelt.

Seinem Ruf auf dem Eulenkopf scheint seine Art auf jeden Fall alles andere als geschadet zu haben. »Wenn ich mit meiner Kamera ankomme, sind die meisten nicht so begeistert, aber ich war mit einem Horst-Eberhard Richter-Joker ausgestattet«, erinnert sich seine Enkelin, die Dokumentarfotografin Merle Forchmann, an die Arbeit an ihrem Fotoprojekt »Eulenkopf - eine Wohnsiedlung«.

Doch nicht nur lokal engagierte sich Richter: Mit den »internationalen Ärzten zur Verhinderung des Atomkriegs« (IPPNW) setzte er sich gegen politisch zur Wehr. Hier »gelang es ihm immer wieder, Gruppenspaltungen zu verhindern«, betonte Ulrich Breidert-Achterberg, Facharzt für psychosomatische Medizin, in seiner Rede, »es konnte aber auch sein, dass Gruppen an seinen Überzeugungen schier verzweifelten«.

Seine Meinung fehlt

Denn Richter konnte auch Kritik üben: Am Balkankrieg in den 90er Jahren haben ihn beispielsweise die »Pazifisten, die zu Bellizisten wurden« gestört, zitiert Prof. Elmar Brähler.

Ob man Richters Meinung zustimmt oder nicht, gleich mehrere Redner an diesem Abend bedauern, dass wir ohne Horst-Eberhard Richters Meinung zum Ukraine-Krieg auskommen müssen, denn er hätte bestimmt eine gehabt.

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