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Russlands Pässe und Putins Einfluss

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Der Konflikt um Bergkarabach (Foto) im Windschatten des Ukraine-Kriegs: Die Kaukasusrepublik Aserbaidschan eskaliert in diesen Tagen erneut den Konflikt mit Armenien - und nutzt damit auch die Schwäche von dessen Schutzmacht Russland aus. Fotos: dpa, Gauges © dpa, Gauges

Expertin Sabine Fischer spricht in Gießen über Regionalkonflikte im Schatten des Ukraine-Kriegs

Gießen. Im Windschatten des russischen Vernichtungskriegs in der Ukraine droht gerade eine weitere, hierzulande jedoch weit weniger beachtete humanitäre Katastrophe. In der von Armeniern bewohnten Enklave Bergkarabach sind rund 120000 Menschen von der Versorgung abgeschnitten, weil Kriegsgegner Aserbaidschan den einzigen Zugang durch das von ihm kontrollierte Territorium blockiert. Dass dieser seit 30 Jahren andauernde Konflikt gerade jetzt erneut eskaliert, ist kein Zufall, wie die renommierte Russland- und Osteuropa-Expertin Dr. Sabine Fischer bei ihrer Ringvorlesung in der Aula der Justus-Liebig-Universität erläuterte. »Unser Krieg? Die Zukunft der Ukraine und die Neuordnung der Welt«, lautet der Titel der seit Beginn an von einem großen Publikum begleiteten Reihe. Die Wissenschaftlerin nahm am Dienstagabend die Kriege in der Peripherie Moskaus in den Blick und erläuterte, welche Rolle der »Schlüsselstaat Russland« dabei einnimmt.

Bei diesen zahlreichen Namen von Ländern und Landstrichen kann man schon einmal den Überblick verlieren: Moldawien und Transnistrien, Süd-Ossetien und Abchasien, Georgien und Bergkarabach: All diese Regionen am südlichen und südwestlichen Rand Russlands waren seit Beginn der 1990er Jahre von lokalen Kriegen betroffen, die Tausende Tote forderten, viele hunderttausend Menschen entwurzelten und bis heute weitreichende politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Folgen haben. »Es sind abgehängte Gebiete«, bilanziert Sabine Fischer. Die für die Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) forschende Expertin war selbst als Mediatorin in dem von Georgien abgespaltenen Abchasien unterwegs, um zwischen den dortigen Kriegsparteien zu vermitteln. Sie arbeitete zudem bis 2021 drei Jahre in Moskau und berät die Bundesregierung zu Konflikten in der östlichen Nachbarschaft der EU. In Gießen gab sie einen Überblick zum Thema und zog gleichzeitig Verbindungslinien zur Außenpolitik Wladimir Putins.

All diese im Vortrag skizzierten Auseinandersetzungen »sind Teile des Zerfallsprozesses der Sowjetunion«, erklärte die 53-Jährige. Ein Prozess, der noch längst nicht abgeschlossen sei und 2022 im Ukraine-Krieg kulminierte. Der häufig verwendete Begriff der »eingefrorenen Konflikte« führe dabei in die Irre, weil ihnen weiterhin eine »Gewaltdynamik« innewohne. Beredtes Beispiel sei Bergkarabach, wo sich Aserbaidschan die aktuelle russische Schwäche zunutze mache, und, angesichts überlegenen Waffenmaterials und der Unterstützung der Türkei, Territorium zurückzugewinnen versuche.

Fischer berichtete, wie nach dem Ende des Kalten Krieges und der Auflösung der Sowjetunion in den neuen Ländern einzelne Regionen einen Separatismus entwickelten, den Moskau für sich zu nutzen wusste. Etwa in Georgien, wo sich in den 90ern neben den Abchasen auch die Südosseten abspalteten und seitdem aus Moskau finanziert werden.

Russland nutze laut Fischers Analyse maßgeblich vier Faktoren, um die eigenen Machtinteressen in diesen Regionen durchzusetzen: sein Militär, den Aufbau der Regionen zu De-facto-Staaten, Wirtschaftshilfe sowie die Einbürgerung von Bevölkerungsgruppen, indem Pässe verteilt werden. All das diene einem von Moskau gesteuerten Neoimperialismus, dem das Narrativ zugrundeliegt, man befinde sich seit Langem in einem Krieg mit der Nato und müsse die eigene Einflusssphäre ausdehnen.

Mit der freigiebig betriebenen Ausgabe von Pässen sorge Moskau für enormen Druck in den entsprechenden Regionen. Und nicht nur dort. So habe es - nach dem Angriff auf die Ukraine - im zentralasiatischen Kasachstan wie ein Schock gewirkt, als Putin »nonchalant davon sprach, dass auch dort eine russische Minderheit lebt«, berichtete die Gastrednerin. Diente ihm dieses Argument doch bereits dazu, die vermeintlichen Volksrepubliken Donezk und Luhansk in der Ost-Ukraine dem eigenen Staatsgebiet zuzuschlagen.

Im anschließenden Gespräch mit der Gießener Slawistik-Professorin Monika Wingender berichtete Fischer, dass ihr die dortige Passvergabe Moskaus bereits im vergangenen Jahr deutlich gemacht habe, dass es in der Ukraine zu großen Spannungen kommen werde. Diese Einschätzung habe sie auch gegenüber Politikern und Medien geäußert. Dass Putin aber den vor acht Jahren begonnenen Krieg in der Ukraine auf diese Weise eskalierte, »das hätte auch ich nicht für möglich gehalten«.

Die Reihe der Ringvorlesungen wird fortgesetzt am Dienstag, 24. Januar, um 19.15 Uhr. Zu Gast ist dann Marieluise Beck, ehemalige Grüne Bundestagsabgeordnete und Direktorin Ostmitteleuropa/Osteuropa im Zentrum Liberale Moderne.

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Sabine Fischer © Red

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