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»Scheinheilig und verlogen«

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Deutliche Worte fanden die Streikenden aus dem Sozial- und Erziehungsdienst am Mikrofon wie auf Transparenten. © Schäfer

Etwa 500 Streikende sind dem Aufruf von Verdi zum Warnstreik gefolgt. In einem Demozug zogen ErzieherInnen und Sozialassistenten von den Hessenhallen zum Rathaus in Gießen.

Gießen. »Mir ist das Herz aufgegangen, als ich heute Morgen so viele gesehen habe«, ruft Hermann Schaus auf dem Berliner Platz. Schaus, ehemaliger Verdi-Gewerkschaftssekretär und derzeit kommunalpolitischer Sprecher der Linken im Landtag, meint die etwa 500 Streikenden, die sich am gestrigen Vormittag an den Hessenhallen sammelten, um in einem Demozug durch die Stadt zum Rathaus zu marschieren. Es ist der zweite bundesweite Warnstreik von Erzieherinnen und Erziehern, Kinderpflegerinnen, Sozialassistenten und anderen Berufsgruppen aus Kitas und dem Ganztag in Schulen.

Am 16. und 17. Mai stehen in Potsdam die nächsten Verhandlungen zu einem neuen Tarifvertrag für die Beschäftigten im Sozial- und Erziehungsdienst an. Die ersten beiden Gesprächsrunden waren für die Gewerkschaft nicht befriedigend verlaufen. Jens Ahäuser, zuständig für die Tarifkoordination Öffentlicher Dienst im Landesbezirk bei Verdi: »Was ist bisher passiert? Nix!« Die Arbeitgeber hätten für alles Verständnis gezeigt, würden jedoch keine Vorschläge zur Lösung der Probleme vortragen. »Das Einzige, was sie ständig wiederholt haben, ist: Das lehnen wir ab.« Sie argumentierten mit ihrer finanziellen Situation, den zusätzlichen Belastungen wegen Corona und des Ukraine-Krieges. »Unsere Forderungen seien für sie zu teuer.« In so einer Krisenzeit wie aktuell sollten Gruppen vergrößert und andere, nicht qualifizierte Kräfte einspringen. »Hier zeigt sich das wahre Gesicht der Arbeitgeber.«

In politischen Sonntagsreden würden die Beschäftigten im sozialen Dienst über den grünen Klee gelobt. In der Corona-Phase als Stützen der Gesellschaft bezeichnet. Gehe es aber darum, diese Stützen materiell anzuerkennen, verwiesen dieselben Politiker auf die schlechte Finanzlage der öffentlichen Haushalte: »Das ist scheinheilig und verlogen.« Ahäuser fährt fort: »Wir wollen keine Kinderverwahranstalten. Wir wollen Kinder einen guten Start ins Leben geben. Dafür brauchen wir aber motivierte und gut qualifizierte Beschäftigte.« Pro Einrichtung fehlten derzeit im Schnitt drei pädagogische Kräfte. »Bei 4200 Kitas in Hessen sind das 12 600, die fehlen. Das ist die Realität. Und wir erwarten, dass hier Abhilfe geschaffen wird.«

Dass wohl tatsächlich vieles im Argen liegt, verdeutlichen verschiedene Erzieherinnen, die aus ihrem Berufsleben berichten. Anica Trudrung aus Wettenberg kritisiert, dass immer mehr Verantwortung gefordert sei - einhergehend mit wachsenden pädagogischen Anforderungen. Dabei werde die Ausbildung nicht praxisbezogen durchgeführt. Sie fragt zugleich: »Warum werden wir nicht wie Lehrer bezahlt? Warum soll unsere Arbeit weniger wichtig als die andere sein?« Wenn bis zu 25 Kinder von nur einer Person betreut würden, könne von Erziehung keine Rede mehr sein.

Ann Wetz aus Wetzlar mutmaßt, dass womöglich die niedrige Bezahlung an dem hohen Frauenanteil von 94 Prozent in den Kitas liege. Sie bejaht das Recht der Kinder auf Bildung. Erzieherin und Betriebsrätin Dunja Hilgenberg aus Marburg zeigt sich erfreut, dass von dreizehn Einrichtungen ihrer Stadt neun mit nach Gießen gekommen sind. Eine vier- bis fünfjährige Erzieherausbildung müsse wie die Lehre im Handwerk entlohnt werden. Es dürfe nicht sein, dass vorherige Tätigkeiten bei einem anderen Arbeitgeber diese bei der Tarifeingruppierung bezüglich »Jahre der Berufserfahrung« nicht berücksichtigt werden müssten. »Das ist eine Kann-Bestimmung und die muss weg.«

Am Rande der Veranstaltung erzählt dazu die Erzieherin A. J. (Name der Redaktion bekannt) mit 21 Jahren Berufserfahrung und mehrmaliger Berufsunterbrechung wegen der Betreuung mehrerer Kinder, dass sie stets in eine untere Stufe eingruppiert worden sei. »Manchmal habe ich keine Kraft mehr, dagegen zu kämpfen«, sagt sie, die sich gerade erneut in einer solchen Auseinandersetzung mit ihrem Arbeitgeber befindet. Cordula Tirschnitz zu den Versammelten: »Ich kämpfe schon seit 30 Jahren. Ich denke, wir müssen weiterkämpfen und weiterkämpfen.« Sie zeigt sich entsetzt, dass die Arbeitgeber bei den Verhandlungen so stur seien. In den Forderungen nach Vorbereitungszeit wie bei Lehrern werde von ihnen eine versteckte Arbeitszeitverkürzung gesehen. Silke Frese arbeitet seit zwei Jahren in Pohlheim in einer Gruppe, in der ein Erzieher fehle. Jetzt kämen noch »viele Kinder aus den Kriegsgebieten« hinzu. Sie sehe nur noch erschöpftes Personal. »Obwohl das eigentlich ein wunderschöner Beruf ist.«

Holger Simon, Verdi-Gewerkschaftssekretär Mittelhessen, forderte dazu auf, dem Arbeitgeber Stadt Gießen symbolisch die Rote Karte zu zeigen. Dem Aufruf kamen die Versammelten in Scharen nach.

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