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Schicksale dem Vergessen entrissen

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Von: Petra A. Zielinski

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Erinnern sich an die Entstehungsgeschichte der Ausstellung (von links): Dr. Herwig Gross (Leiter der Gedenkausstellung), Dr. Esther Abel (Förderverein Gedenkausstellung), Dr. Uta George (Mitautorin der Gedenkausstellung) und Dr. Michaek Putzke (Vorsitzender des Fördervereins). Foto: Zielinski © Zielinski

Gedenkarbeit nimmt an der Vitos-Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Gießen einen hohen Stellenwert ein. Das stellt die Ausstellung »Vom Wert des Menschen« unter Beweis.

Gießen . Gedenkarbeit nimmt an der Vitos-Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Gießen einen hohen Stellenwert ein. Das stellte die Ausstellung »Vom Wert des Menschen. Die Geschichte der Heil- und Pflegeanstalt Gießen«, die nun ihr 25-jähriges Jubiläum feierte, erneut unter Beweis. Auf Einladung von Klinik und Förderverein Psychiatriemuseum/Gedenkausstellung Gießen gedachten Vertreter aus Politik und Kultur im Rahmen eines Festaktes an die Anfänge der Ausstellung und deren Entwicklung. Der Förderverein wurde 2017 gegründet, um die Finanzierung des Museums zur Geschichte der Psychiatrie sicherzustellen.

Stigmatisierung begann früher

»Der 21. März markiert nicht nur die Eröffnung der Ausstellung. 1941 wurden an diesem Tag Patienten der Gießener Heil- und Pflegeanstalt in die Landesheilanstalt Weilmünster - eine Art Zwischenanstalt für die Gasmordanstalt Hadamar - verlegt«, machte der Vorsitzende des Fördervereins, Dr. Michael Putzke, deutlich. »Die Stigmatisierung psychisch kranker Menschen begann nicht erst mit der Machtergreifung«, betonte Gießens Oberbürgermeister Frank-Tilo Becher. Aus diesem Grund sei es wichtig, dass die Ausstellung bereits 1911 einsetze. »Der Wert der Menschen wurde in Frage gestellt und Klinikbeschäftigte seien zu Tätern geworden. »Die Ideen der Nazis wurden nicht nur akzeptiert, sondern auch propagiert.« Nach Ende des Naziregimes habe es zu viele Freisprüche und Begnadigungen gegeben. Berufsverbote hätten oftmals mit der Weihnachtsamnestie geendet.

Nach dem Krieg seien NS-Euthanasie-Programme wie die »Aktion T4«, bei der Hunderttausende kranke und behinderte Menschen ermordet wurden, aus den Gedächtnissen verdrängt worden. Erst Ende der 60er habe eine langsame Aufarbeitung begonnen. Das veraltete, aus dem Jahr 1952 stammende, »Hessische Gesetz über die Entziehung der Freiheit geisteskranker, geistesschwacher, rauschgift- oder alkoholsüchtiger Personen« (HFEG) sei erst 2017 durch ein neues ersetzt worden. »Der Wandel in der Psychiatrie ist auf Geschichte und Forschung zurückzuführen«, so Becher, der sich bei den Initiatoren der Ausstellung, »die keine Selbstverständlichkeit ist«, bedankte. Die neue Sonderausstellung »Künstler*innen für Menschenrechte« biete einen zusätzlichen künstlerischen Zugang zum Thema.

»Bei der Ausstellung ›Vom Wert des Menschen‹ nähern wir uns der Geschichte über menschliche Schicksale«, unterstrich Angela Dorn, hessische Ministerin für Wissenschaft und Kunst, die per Video zugeschaltet wurde. Insgesamt seien 265 Menschen mit sieben Transporten 1941 aus der damaligen Heil- und Pflegeanstalt nach Hadamar geschickt worden, erklärte Dominik Motz, Leiter des Archivs des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen (LWV). Der Transport vom 21. März sei der größte gewesen.

Geschichte vor Ort vermitteln

»Es ist wichtig, die Geschichte an konkreten historischen Orten kennenzulernen und zu sehen, wer in die Euthanasie-Verbrechen verwickelt war«, akzentuierte er. Im September 1940 sei die heutige Vitos-Klinik eine Sammelanstalt für 126 behinderte Juden gewesen, die am 1. Oktober 1940 nach Brandenburg transportiert und am selben Tag noch ermordet worden seien.

»Ende Juni 1940 war die Heil- und Pflegeanstalt zugleich eine neurologische Beobachtungsstation für über 5000 Männer der Waffen-SS«, wusste Motz. »Die SS-Männer, die als unproduktiv eingestuft wurden, brachte man ebenfalls nach Hadamar.« Wennemar Rustige von der Künstlergruppe für Menschenrechte, die für die Sonderausstellung verantwortlich zeichnet, rief dazu auf, sich mehr gegen die Verbrechen gegen die Menschlichkeit einzusetzen.

In einer anschließenden von Fördervereinsmitglied Dr. Esther Abel moderierten, Podiumsdiskussion setzten sich die Initiatoren der Ausstellung - die Soziologin Dr. Uta George sowie die Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie, Dr. Michael Putzke und Dr. Herwig Gross - mit der Geschichte der Gedenkausstellung auseinander. Gross hatte bereits die Vorgängerausstellung 1983 betreut.

»Alles begann 1973 mit einem Artikel in der Zeitschrift Stern«, erinnerte er sich. Unter der Überschrift »Als Pfleger in der Schlangengruppe« seien darin die damaligen Zustände in der Psychiatrie angeprangert worden. Angeprangert wurde ein »Reformstau auf allen Ebenen« sowie dass die Psychiatrien »reine Aufbewahrungsstationen« seien. Horst-Eberhard Richter, mit dem er damals zusammengearbeitet habe, sei in der Enquete-Kommission der Bundesregierung gewesen und habe die Reformen der 70er maßgeblich geprägt.

Dr. Uta George wies darauf hin, dass man beim Aufbau der Ausstellung auf Akten gestoßen sei, die »über Jahre in Archiven geschlummert« hätten. »Wir haben menschliche Schicksale der Vergessenheit entrissen.« Ziel der Ausstellung sei es, entdeckendes Lernen zu fördern. Dr. Herwig Gross wies darauf hin, dass bereits 40 000 Besucher und Besucherinnen in der Ausstellung waren, darunter überwiegend Schüler sowie Studenten der unterschiedlichsten Fakultäten. »Wir befinden uns hier an einem Ort, wo man sich fragen kann, wo wir aktuell eigentlich stehen«, schloss der Chefarzt der Klinik am Bürgerhospital in Friedberg.

Begleitband zur Ausstellung

Kein Vierteljahrhundert, aber immerhin 20 Jahre alt wird in diesem Jahr auch das von den Initiatoren der Ausstellung herausgegebene Buch »Psychiatrie in Gießen«, ein wissenschaftlicher Begleitband zur Ausstellung. Musikalisch wurde die Jubiläumsveranstaltung von Michel Weiss (Flöte) und Tom Feldrappe (Klavier) umrahmt. Für einen humorvoll lyrischen Abschluss sorgte Lars Ruppel, mehrfacher Meister im Poetry Slam.

Zuvor nutzten rund 75 Interessierte die Gelegenheit an einem historischen Rundgang über das Gelände der Vitos-Klinik teilzunehmen und einen Blick in die Ausstellung zu werfen.

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