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Schnitzel und Windbeutel sind hier legendär

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Von: Petra A. Zielinski

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Beliebtes Ausflugsziel: Diese Ansichtskarte zeigt die Gaststätte »Waldfrieden« am Hangelstein in den 70er Jahren. Fotos: Zielinski © Zielinski

Von der Gartenlaube zum Traditionslokal: Familie Becker hat die Gaststätte »Waldfrieden« am Hangelstein in Gießen verkauft. Die Gründe sind vielfältig - eine Bilanz.

Gießen. Sechs Jahre lang hat Familie Becker versucht, ihre Gaststätte »Waldfrieden« am Hangelstein zu verkaufen. Ende November war es endlich so weit, die Schwestern Carina Keller, Daniela und Vanessa Neumann unterschrieben den Kaufvertrag. Neben dem Lokal haben sie damit auch ein 4000 Quadratmeter umfassendes Gelände übernommen. »Die Kinder wollten nicht ins Geschäft einsteigen und für uns war die Herausforderung, einen so großen Betrieb aufrechtzuerhalten, einfach zu groß«, schildern Claudia und Ralf Becker im Gespräch mit dem Anzeiger ihre Situation. Darüber hinaus habe man Probleme gehabt, qualifiziertes Personal zu finden. »Und eine Busverbindung zu unserem Lokal gibt es leider auch nicht.«

Zuletzt hat Ralf Becker, der jeden Tag selbst in der Küche stand, die Gaststätte mit Hilfe seiner Frau Claudia, seiner Mutter Ursula und vier Aushilfen geführt. Aufgrund einer Erkrankung sei ihm das immer schwerer gefallen. Vor der Pandemie hatte die Gaststätte noch täglich außer freitags von 11 bis 21 Uhr durchgehend geöffnet. Nachmittags gab es Kaffee und hausgemachten Kuchen. Urlaub machten die Beckers - abgesehen von den Weihnachtsfeiertagen - nur zweimal im Jahr, im März und im Oktober.

Der Abschied von ihrem Traditionslokal fällt Mutter, Sohn und Schwiegertochter sichtlich schwer. »Das muss man erst einmal verkraften«, sagt Ralf Becker. Allerdings haben auch jahrelange 72-Stunden-Wochen ihre Spuren hinterlassen. »Vor allem, als die Schließung bekannt wurde, haben viele Stammgäste die Gelegenheit ergriffen, bei uns zu essen«, freut er sich. »Wo sonst gab es so gute Hausmannskost?«

Neben den legendären Schnitzeln der Beckers kamen insbesondere die Koteletts und Braten mit frischen Kartoffeln bei den Gästen hervorragend an. »Ein Gast erzählte uns, dass er das letzte Mal als Kind zusammen mit seiner Oma bei uns gegessen hätte.«

Hervorgegangen ist der »Waldfrieden« aus einer Gartenlaube am Hangelstein, welche die Schwiegereltern von Ursula Becker, Otto und Erna Becker, 1949 gekauft haben. Als Besitzer eines gut gehenden Cafés in Wieseck hatte Otto Becker die Idee, auf den zwei außerhalb gelegenen Äckern ein Ausflugslokal für Wanderer und Spaziergänger zu eröffnen. 1960 wurde der Kiosk größer, Gaststätte und Hotel kamen hinzu.

»7,50 Mark haben wir damals für vier Mahlzeiten und eine Übernachtung berechnet«, erinnert sich Ursula Becker. »Der Strom kam aus Petroleumlampen, das Wasser aus dem Waldbrunnen.« Die ehemals 14 Zimmer mussten aus Brandschutzgründen auf neun reduziert werden, einige Jahre später wurde der Hotelbetrieb gänzlich eingestellt.

Neben Schnitzeln stellten die großen Windbeutel aus Brandteig, gefüllt mit Sahne, eine weitere Spezialität dar. »Im Sommer war im großen Garten oft kein Platz mehr zu finden«, weiß Regina Kreiling, die 1969 mit 15 Jahren als Aushilfe im »Waldfrieden« mit dem Kellnern begann. Dass sie mit kurzer Unterbrechung bis heute der Gaststätte und ihren Betreibern die Treue halten würde, hätte sie damals nicht geglaubt.

»Ich wohne in Wieseck und bin immer, wenn Bedarf war, eingesprungen«, erklärt Kreiling. »Das war für mich eine Selbstverständlichkeit.« 1970 übernahmen Karl-Heinz und Ursula Becker den »Waldfrieden«. 21 Jahre später übergaben sie das Zepter an ihren Sohn Ralf und dessen Frau. »Meine beiden älteren Brüder hatten kein Interesse daran«, sagt der gelernte Koch.

Der »Waldfrieden« hat von Mund-zu-Mund-Propaganda gelebt. »Die Aufstellung eines Werbeplakats wurde uns von der Stadt Gießen untersagt«, bedauert Ralf Becker. So gibt es nur aus Richtung Wieseck kommend ein kleines Hinweisschild. »Erst kam Corona und dann wurde auch noch die Straße zwischen Alten-Buseck und Wieseck gesperrt«, so der 55-Jährige. Nur auf einem Schild am Baustellenzaun habe »Waldfrieden frei« gestanden. »Viele Gäste waren irritiert und haben sich am Telefon den Weg erklären lassen.«

Interessenten für das Objekt, zu dem vier Gebäude und eine eigene Kläranlage gehören, habe es genug gegeben, unterstreichen die Beckers. Hinderlich seien vielmehr die Auflagen der Stadt Gießen gewesen. Sowohl ein Waldkindergarten als auch ein Altenheim inklusive Café und ein Fünffamilienhaus seien von der Stadt abgelehnt worden. »Eine Abrissgenehmigung hingegen hätten wir sofort bekommen«, betont Ralf Becker. »Der Bestandsschutz sollte aufrechterhalten werden«, führt er weiter aus. So sei etwa eine größere Wohnanlage planungsrechtlich unzulässig. Einzig die Betreiber der Gaststätte dürften auf dem Areal wohnen - unter der Voraussetzung, weiterhin ein gastronomisches Angebot zu machen.

Das soll bald wieder der Fall sein, denn die Käuferinnen möchten ein Café inklusive Hotelbetrieb und Seminarange-bot etablieren. Claudia und Ralf Becker sind froh, dass die neuen Betreiberinnen auch das Inventar der Gaststätte übernehmen. »Wir haben ohnehin viele private Dinge mitzunehmen«, sagt Claudia Becker.

Eine neue Unterkunft hat die Familie bereits gefunden: Sie tauschen ihr großzügiges Haus nun gegen eine 90 Quadratmeterwohnung in Buseck ein. Mutter Ursula hat bereits die ersten Nächte in ihrem neuen Heim, ebenfalls in Buseck, geschlafen. »Das ist eine ganz schöne Umstellung«, meint sie. Vor allem daran, dass sie nun ausschlafen kann, muss sich die 81-Jährige gewöhnen. Und beruflich? »Wir werden uns erst mal eine kleine Auszeit gönnen«, betonen Claudia und Ralf Becker. Ob er danach wieder in der Küche stehen werde, sei fraglich.

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Abschied mit einem lachenden und einem weinenden Auge: Regina Kreiling, Ursula, Ralf und Claudia Becker (von links). © Petra A. Zielinski

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