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Schutz geht nicht ohne Teamwork

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199 Meldungen möglicher Kindeswohlgefährdungen haben die Mitarbeiterinnen von Wildwasser Gießen im vergangenen Jahr bearbeitet. Symbolfoto: Maurizio Gambarini/dpa © Red

Damit Kindeswohlgefährdung erkannt wird: Wildwasser Gießen schult Kita-Mitarbeiter in Stadt und Kreis

Gießen . Unerklärliche Verletzungsspuren, ein ungepflegtes Erscheinungsbild oder Äußerungen über erlebte Gewalt: Hinweise auf eine mögliche Kindeswohlgefährdung gibt es viele - und nicht immer sind sie klar ersichtlich. Um die Mitarbeiter in den Kindertagesstätten für das Thema zu sensibilisieren und ihnen außerdem Unterstützung bei der Gefährdungseinschätzung zu bieten, läuft derzeit zum zweiten Mal eine Grundqualifizierung in den Kindertageseinrichtungen in Stadt und Kreis. Durchgeführt werden die Schulungen von den Fachberatungsstellen des Caritasverbandes Gießen sowie von Wildwasser Gießen. Die Kosten übernimmt der Landkreis. »Alle Einrichtungen bekommen das Angebot, damit jede Fachkraft, die mit Kindern zu tun hat, entsprechend qualifiziert ist«, sagt Wildwasser-Mitarbeiterin Dr. Ingrid Kaiser. Denn um Kinder wirksam zu schützen, sei Zusammenarbeit wichtig.

Gut vernetzt in Stadt und Land

Passend dazu hat die Beratungsstelle gegen sexuellen Missbrauch ihrem Tätigkeitsbericht 2021 den Titel »Niemand alleine« gegeben: Weder eine Privatperson noch eine Institution könne alleine Missbrauch verhindern und Kinder wirkungsvoll schützen. »Wir haben im Kreis Gießen eine sehr gute interdisziplinäre Vernetzung«, findet Kaiser. Die Vorgehensweise in Bezug auf Intervention ist zwischen Jugendhilfe, Justiz, Polizei und Gesundheitswesen abgestimmt.

Selbstverständlich ist das offenbar nicht: Im vergangenen Jahr hat Wildwasser, oft mit anderen Institutionen aus Gießen und Umgebung, die institutionelle Zusammenarbeit zum Thema Kinderschutz bei landes- und bundesweiten Fachtagungen vorgestellt - und habe dabei oft »bewunderndes Erstaunen« beim Gegenüber ausgelöst.

Aber warum ist eine Schulung aller Fachkräfte so wichtig? Täter gehen beim sexuellen Missbrauch strategisch vor, »sie nutzen unsere Unkenntnis, unser mangelndes Vorstellungsvermögen, unsere Sprachlosigkeit, unsere Ungenauigkeit, unsere zaghafte Kooperationsbereitschaft und -fähigkeit, unsere Scham und all unsere Zweifel aus«, heißt es im Wildwasser-Bericht. Außerdem suchen sich die Kinder ihre Ansprechpersonen selber aus, »also müssen auch alle qualifiziert sein«.

Stellt etwa die Erzieherin in der Kita einen gewichtigen Anhaltspunkt für eine Kindeswohlgefährdung fest, besteht gegenüber dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe ein Anspruch auf Beratung durch eine »insoweit erfahrene Fachkraft« der regionalen Beratungsstellen, darunter Wildwasser. Die dortigen Mitarbeiterinnen haben im vergangenen Jahr 199 Gefährdungseinschätzungen beraten und protokolliert.

In der Beratung wird etwa eingeschätzt, ob für das Kind eine akute Gefahr besteht. Wenn möglich werden die Eltern einbezogen - es sei denn, dies könnte dem Kind schaden. Die betroffenen Familien bleiben anonym, so lange keine Meldung an das Jugendamt erforderlich ist. Die Unterstützung durch die Fachberatungsstellen gibt den Kita-Mitarbeitern Sicherheit: »Wer macht was und wer lässt wovon die Finger? Pädagogische Fachkräfte ermitteln nicht, das macht die Polizei«, verdeutlicht Kaiser.

Jugendamt 40 mal eingeschaltet

Von den 199 Gefährdungseinschätzungen aus dem vergangenen Jahr kam fast die Hälfte der Anfragen aus den Kitas - und damit deutlich mehr als in den vergangenen Jahren. Das, so Wildwasser-Beraterin Hanna Smykalla, lasse sich vermutlich auf die gestiegene Sensibilisierung in Folge der Schulung zurückführen.

Weitere 36 Anfragen erreichten die Beratungsstellen aus Schulen, 28 aus stationären Jugendhilfeeinrichtungen. Bei 40 Fällen wurde eine Meldung an das Jugendamt empfohlen, bei 128 eigene Maßnahmen zur Unterstützung. Bei 31 Fällen lag keine Gefährdung vor.

Immer wieder war in den vergangenen zwei Jahren zu lesen, dass das Zuhausebleiben während der Corona-Pandemie zu mehr häuslicher Gewalt führen könnte. Ein solches »Corona-Plus« bilde sich bei Wildwasser nicht ab, sagte Kaiser. Zwar ist die Zahl der Beratungsgespräche gegenüber 2019 von 691 auf 753 gestiegen. Die Zahl der Personen, die Hilfe gesucht haben, ist aber in den vergangenen drei Jahren nahezu gleich geblieben.

Neu ist die Online-Beratung, die per E-Mail stattfindet und übrigens unabhängig von der Corona-Pandemie geplant war. Die Wildwasser-Mitarbeiterinnen haben festgestellt, »dass das Schreiben der Mails allein ein Prozess ist, der den Ratsuchenden helfen kann«, indem sie Erlebtes sortieren. Das schriftliche Format und die Anonymität könnten zudem helfen, Ängste und Bedenken zu senken, wodurch teilweise offenere Dialoge zustande kämen, als in der Beratung vor Ort. »Die Online-Beratung schafft eine gewissen Distanz, die manchmal die detaillierter Erzählung erleichtert«, verdeutlicht Smykalla. Ein gesicherter Server sorgt dafür, dass keine Nachrichten abgefangen werden können.

Außerdem sei der Kontakt per Mail etwa für diejenigen sinnvoll, die eine Beratung sonst nicht vor ihrem Umfeld verbergen könnten. Ein weiterer Vorteil: Die Hilfesuchenden können sich ihr Anliegen auch nachts um 3 Uhr von der Seele schreiben und müssen nicht erst warten, bis die Beratungsstelle öffnet.

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