Solidarität ist »der helle Wahnsinn«

Die schweren Erdbeben sorgen auch in Gießen für Betroffenheit und große Unterstützung. Die Ditib-Gemeinde bekommt viele Anfragen, Hochbetrieb herrscht in einem Lager in der Lahnstraße.
Gießen. Von den Erschütterungen hat Volkan Öztürk nachts in seinem Hotelzimmer selbst nichts mitbekommen. Trotzdem seien sie auch in Antalya, wo sich der gebürtige Gießener momentan mit seiner Fußballmannschaft aufhält, zu spüren gewesen. Vier Stunden liegt das beliebte türkische Urlaubsziel von jener Region entfernt, in der das verheerende Erdbeben seinen Ursprung nahm - in seiner Heimatstadt Kahramanmaras. Viele Verwandte leben noch dort: Tanten, Onkel, Großeltern. »Gott sei Dank ist niemandem etwas passiert, sie sind alle gesund, dürfen aber ihre Häuser zurzeit nicht betreten«, schildert der 34-Jährige im Gespräch mit dem Anzeiger. Bei der Ditib-Gemeinde in der Marburger Straße laufen derweil »die Telefone heiß«, ergänzt der Zweite Vorsitzende Serkan Görgülü. Denn nicht nur die Sorgen sind groß, die Solidarität ist es auch. »Uns erreichen ganz viele Anfragen, weil die Menschen irgendwie unterstützen und spenden wollen. Das ist unglaublich, der helle Wahnsinn.« Damit nicht genug: Von einem Lager in der Lahnstraße aus sind bereits mehr als 5000 Pakete in Richtung Frankfurter Flughafen gebracht worden, um dann über die Organisation Roter Halbmond weiter in die Türkei verschickt zu werden.
Obdachlosigkeit und eisige Kälte
Das schwere Beben im türkisch-syrischen Grenzgebiet begann in der Dunkelheit und riss am Montagmorgen unzählige Frauen, Männer und Kinder aus dem Schlaf. Die Zahl der Todesopfer und Verletzten steigt rasant, zudem sind Tausende Häuser zusammengebrochen. Noch ist das ganze Ausmaß der Katastrophe nicht absehbar. »Wir befinden uns alle in einer Schockstarre«, sagt Volkan Öztürk. Besonders schlimm seien die Minusgrade in den betroffenen Gegenden, die es zusätzlich erschweren, einerseits Verschüttete zu bergen und andererseits unter den Trümmern zu überleben. »Vier Monate hat es nicht geschneit, warum ausgerechnet jetzt?«, fragt der Geschäftsmann fast schon resigniert. Hinzu komme, dass in den stehen gebliebenen Häusern die Gasleitungen abgeschaltet worden seien - wegen der Einsturzgefahr. Auch dieser Frage gelte es später nachzugehen: Wie kann es sein, dass selbst Neubauten, von denen ihm bei seinem letzten Besuch in Kahramanmaras noch einige stolz präsentiert worden seien, so leicht zusammenfallen?
Eigentlich war Volkan Öztürk mit seinem Team, dem Kreisoberligisten Türk Ata/Türkgücü Wetzlar, zum Trainingslager ans Mittelmeer gereist. Stattdessen erlebt der Spielertrainer nun vor Ort »ein Land im Ausnahmezustand«. Doch der Zusammenhalt sei extrem, »alle ziehen an einem Strang«, die Politik - in wenigen Monaten stehen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen an - trete völlig in den Hintergrund. Jeder versuche nur zu helfen, wolle seinen Beitrag leisten: Intern hätten sie Spenden gesammelt, vor Blutspendezelten in Antalya bildeten sich lange Schlangen und im Stundentakt starteten Lkw mit Hilfsgütern gen Osten. »Das ist alles nicht in Worte zu fassen«, wiederholt Volkan Öztürk immer wieder.
Keine Verzweiflung
Das riesige Engagement stimmt Serkan Görgülü ebenfalls optimistisch, diese gewaltige Herausforderung zu meistern. Aus den Telefonaten mit Verwandten und Bekannten habe er zwar insbesondere in den ersten Stunden auch Angst vor weiteren Nachbeben herausgehört, aber keine Verzweiflung. »Die Menschen bemühen sich, nach vorne zu schauen, verhalten sich besonnen. Sie lassen die Trauer zunächst beiseite und machen sich daran, Überlebende zu retten und den Schutt wegzuräumen. Sie müssen einfach funktionieren«, berichtet das Ditib-Vorstandsmitglied von seinen Eindrücken.
Bestens funktioniert hat auf jeden Fall die privat initiierte Hilfsbereitschaft in und um Gießen. Das mag auch daran liegen, dass in Mittelhessen viele Menschen wohnen, die ursprünglich aus dem Erdbebengebiet mit Städten wie Kahramanmaras, Malatya und Diyarbakir stammen, so Görgülü. Von der Resonanz ist er dennoch überwältigt. Während Ditib die Aufgabe zufällt, die Geldspenden zu koordinieren, herrscht in der Lahnstraße 234 geradezu Hochbetrieb. Unternehmer Halit Demiroglu hat dort nämlich seine Lagerhalle zur Verfügung gestellt und beinahe minütlich treffen Kleinbusse aus Gießen und den benachbarten Landkreisen ein - vollbepackt unter anderem mit Decken, Kleidung, Babynahrung und Hygieneartikeln. Und diese Sachen werden wiederum umgeladen in die größeren Fahrzeuge und Sattelzüge von Sezer Kagba aus Lützellinden, der mit seiner Firma CC Logistik den Weitertransport in ein Zwischenlager nach Frankfurt übernimmt. Serkan Görgülü klingt daher regelrecht begeistert: »Aus allen Bevölkerungsgruppen und religionsübergreifend sind die Menschen hier im Einsatz, das ist echt bewundernswert« - und trotz aller Zerstörung und Leid vor allem auch ein Grund für ein wenig Hoffnung und Zuversicht.
