Spurensuche am Eulenkopf

Am Eulenkopf in Gießen hat Horst-Eberhard Richter Pionierarbeit geleistet. Enkelin Merle Forchmann folgt seinen Spuren.
Gießen . Ein »großes ghettoartiges Gebilde« ohne asphaltierte Straßen und Straßenbeleuchtung, dafür mit »kümmerlichen Wohnungen« und im Herbst und Winter mit viel Dreck vor den Häusern - so beschrieb Horst-Eberhard Richter in einer Fernsehsendung vor 23 Jahren rückblickend den Eulenkopf der 1960er Jahre. Einen Schönheitswettbewerb würden die Häuser wohl auch heute nicht gewinnen, sein »Ghetto«-Stigma hat der Eulenkopf aber abgelegt - auch dank Richter. Der Psychoanalytiker hatte in den 1970er Jahren verschiedene Projekte zur Selbstorganisation der Wohnsiedlung ins Leben gerufen. Jahrzehnte später hat sich seine Enkelin, die Düsseldorfer Fotografin Merle Forchmann, auf die Spuren des Gießener Ehrenbürgers begeben. Entstanden ist ein Fotobuch über die Siedlung und ihre Bewohner, das noch in diesem Jahr erscheinen soll.
Der Eulenkopf sei ihr zwar schon als Kind ein Begriff gewesen, da in der Familie regelmäßig darüber gesprochen worden sei, erzählt die Fotografin im Gespräch mit dem Anzeiger. Damals habe sie sich aber vor allem über den ungewöhnlichen Namen gewundert.
»Eine ganz normale Wohnsiedlung«
Während der Corona-Pandemie beschäftigte sie sich intensiver mit dem Eulenkopf - und stellte sich die Frage, was ein halbes Jahrhundert später aus ihm geworden ist. Beim ersten Besuch im Gießener Osten deckt sich das, was sie sieht, nicht mit den alten »Ghetto«-Eindrücken: »Das ist heute eine ganz normale Wohnsiedlung mit sehr viel Grün und einem schönen, weiten Blick.«
Forchmann nimmt Kontakt zu den Quartiersmanagern Malin Schwarz und Alexander Lang auf und kommt beim gemeinsamen Besuch mit den Bewohnern ins Gespräch. Sie freuen sich über das Treffen mit Horst-Eberhard Richters Enkelin: »Mich hat beeindruckt, dass sich alle noch sehr gut an meinen Großvater und die Studierendeninitiative erinnern konnten«, sagt die 42-Jährige. Obwohl der Start der Gemeinwesenarbeit bereits über 50 Jahre her ist, hätten Richter und seine Mitstreiter ein nachhaltig positives Bild bei den Menschen vor Ort hinterlassen.
In der »Mahlzeit« am Heyerweg hat die 42-Jährige ein kleines Fotostudio aufgebaut und die Bewohner porträtiert - »nicht nur für das Buch, sondern auch private Familienfotos für die Menschen«. Im Buch wird sich dann eine Auswahl finden: Porträts, Alltagsszenen, die Siedlung. Auch einige alte Bilder aus dem Nachlass ihres Großvaters werden dabei sein, die den Wandel verdeutlichen. Damit das Projekt realisiert werden kann, hat Forchmann eine Crowdfunding-Kampagne gestartet. Noch vor Ablauf der Frist war der notwendige Betrag erreicht.
Am Eulenkopf waren nach dem Zweiten Weltkrieg Behelfsunterkünfte für Geflüchtete und Obdachlose entstanden. Doch damit endete die Fürsorge. Eine Integration der Menschen in die Stadtgesellschaft fand nicht statt. Die Gegend am Stadtrand wurde zu einem sozialen Brennpunkt und in den Wohnungen, in denen zahlreiche Familien mit Kindern wohnten, gab es nicht einmal Duschen.
Das besserte sich erst, als sich die Studierendeninitiative mit den Bewohnern solidarisierte, Politiker auf die Lebenssituation der Menschen aufmerksam machte und sie dabei unterstützte, selbst für eine Verbesserung der Lebensumstände zu sorgen. Ein eigener Sportverein wurde gegründet, die Frauen organisierten sich in einem Club.
Richter, damals Professor für psychosomatische Medizin an der Justus-Liebig-Universität, fasste es im Jahr 2000 in einem Interview so zusammen: »Und so entstand dann allmählich in dieser depressiven Bevölkerung, in der viel Kriminalität, Prostitution, Drogenmissbrauch und auch viel Gewalt geherrscht hat, eine neue Selbstachtung.«
Mehrfach war Merle Forchmann für das Fotobuch vor Ort, rund 20 Bewohner hat sie dafür interviewt. »Sie waren sehr aufgeschlossen und haben mir vertraut«, erinnert sie sich. Viele ihrer Interviewpartner hätten bereits als Kinder am Eulenkopf gewohnt, die Wohnverhältnisse aber als nicht so negativ empfunden: »Die Kinder haben es damals nicht als sozialen Brennpunkt erlebt, sondern eher als ein Gefühl von Freiheit. Sie haben viel gespielt, hatten viel Austausch und einen engen Zusammenhalt.« Erst im Erwachsenenalter hätten manche realisiert, wie schlecht der Zustand der Siedlung Anfang der 1970er Jahre war.
Mit einigen Bewohnern sei von Anfang an eine Verbindung da gewesen - etwa bei Theo, der im Dezember 2011 für Richters Beerdigung nach Berlin gereist ist. Bei einer Bewohnerin, Rosi, habe sie sogar übernachten dürfen: »Das hat mich sehr berührt. Wir haben zusammen Kaffee getrunken und sie erzählte mir, wie sie mit meinem Opa und meiner Mutter genau in dieser Küche ebenfalls Kaffee getrunken hat.«
Wer Interesse an dem Buch hat, kann per E-Mail mit Merle Forchmann Kontakt aufnehmen unter merle.forchmann@posteo.de.

