Stadtgespräch: "Friedensprojekt Europa", eindeutige Botschaften und eine überraschende Wende
Traditionell gehört es zum Neujahrsempfang der Stadt, dass die Oberbürgermeisterin zentrale vergangene und künftige Entwicklungen Gießens skizziert. Eine wichtige Botschaft hat Dietlind Grabe-Bolz jedoch gleich zu Beginn ihrer Ansprache ausgesendet, die über Gießen hinausreicht: "Das Friedensprojekt Europa, eine der größten Errungenschaften des 20.
Jahrhunderts und etwas sehr Kostbares, gilt es zu schützen und zu bewahren." Das ausdrücklich zu betonen, scheint im Moment notwendiger denn je - angesichts einer richtungsweisenden Wahl Ende Mai, bei der zu befürchten ist, dass rechtspopulistische, übersteigert nationalistisch denkende Kräfte erstarken und den Zusammenhalt sowie die kulturelle Vielfalt (noch mehr) gefährden. Vielfach sind es zwar die Institutionen der Europäischen Union, gegen die sich - auch berechtigte - Kritik richtet. Aber selbst die Vorteile der Idee von Europa - und das ist mehr als ein gemeinsamer Wirtschaftsraum - scheinen zunehmend in Vergessenheit zu geraten. Nationale Abschottung kann jedoch ganz bestimmt keine adäquate Antwort sein.*Auffällig ist zudem gewesen, dass die OB nach den Querelen um den Führungsstil von Wohnbau-Chef Reinhard Thies und schlechte Stimmung in der Belegschaft ihm nun in ihrer Rede demonstrativ den Rücken gestärkt hat. Ihr Lob für die "klare soziale Ausrichtung" des "großen Wohnungsversorgers", die Thies "konsequent mit seinen Mitarbeitern praktiziert und weiter vorantreibt", rief sogar Applaus hervor. Das ist natürlich auch eine Art, auf die Vorwürfe einer "gestörten Kommunikation" im Unternehmen zu reagieren, die im Dezember vor dem Arbeitsgericht offenkundig geworden waren. *Auch um den atmosphärischen Frieden im Magistrat war es zuletzt nicht allzu gut bestellt. Auf der einen Seite beklagte Peter Neidel (CDU) fehlende Kollegialität, auf der anderen Seite forderte Dietlind Grabe-Bolz im Interview mit dem Anzeiger, "eigene Befindlichkeiten und Profilierungen hintanzustellen". Vielmehr müsse in der Regierungspolitik "mit einer Stimme" gesprochen werden. Adressat war hier primär der neue Bürgermeister, der zum Beispiel für sich beansprucht hatte, den Verkauf der Alten Post maßgeblich forciert zu haben. Auf diesen Appell bezog sich nun auch "Cantamus"-Dirigent Axel Pfeiffer beim tollen Auftritt seiner Sängerinnen und Sänger im Rathaus, als er betonte, dass ihre Vorliebe für polyphone, also vielstimmige, Chöre trotzdem nach wie vor vorhanden sei. Die Sozialdemokratin legte ebenfalls noch einmal nach und verband den Dank an ihre hauptamtlichen Kolleginnen und Kollegen mit dem expliziten Hinweis, dass "alles, was wir machen, letztlich Teamarbeit ist". *Eine überraschende Wende hat der Fall des Gießener Schülers genommen, der vier Wochen in Ägypten verschwunden war respektive sich in Gewahrsam befand und am Montag nach Deutschland zurückgekehrt ist: abgeschoben wegen mutmaßlicher Verbindungen zu islamistischen Terroristen. Für die Familienangehörigen mag es sicher beruhigend sein, nicht länger in der Ungewissheit leben zu müssen, wie es dem Sohn geht. Vor allem sein Vater hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt, um etwas über seinen Verbleib zu erfahren. Das ist auf Drängen der Bundesregierung schließlich gelungen. Aber von "Ende gut, alles gut" ist diese Geschichte zurzeit noch weit entfernt. Dass auch die deutschen Behörden die Anschuldigungen zunächst einmal überprüfen müssen, leuchtet ein. Dass jedoch sogleich Haftbefehl gegen den 18-Jährigen wegen des Verdachts der "Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat" erlassen worden ist, stimmt zumindest nachdenklich.