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»Starke Stimme der Unternehmerschaft«

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Die Jubiläumsfahne flattert vor dem Gebäude der IHK-Zentrale in der Lonystraße im Wind. Foto: Doreen Franz/IHK © Doreen Franz/IHK

Anlässlich des 150-jährigen Bestehens der Industrie- und Handelskammer Gießen-Friedberg spricht Präsident Rainer Schwarz im Interview über Erfolge, Herausforderungen und Krisen-Bewältigung.

Gießen/Friedberg . Mit inzwischen fast 50 000 Mitgliedsunternehmen vom Einpersonenbetrieb bis zum Milliardenkonzern spielt die Industrie- und Handelskammer (IHK) Gießen-Friedberg eine gewichtige Rolle in der Wirtschaftslandschaft von Mittelhessen und weit darüber hinaus. Anlässlich des 150-jährigen Bestehens spricht IHK-Präsident Rainer Schwarz im Anzeiger-Interview über das Jubiläum, Erfolge, Herausforderungen und Krisen und wirft auch einen Blick in die Zukunft. Der 71-jährige Steuerberater und vereidigte Buchprüfer bekleidet das Ehrenamt seit 2014 und leitet die RS Consulting, Wirtschafts- und Steuerberatungsgesellschaft mbH.

Herr Schwarz, was bedeutet Ihnen persönlich das Jubiläum?

Für mich spiegelt sich in dem Jubiläum ein beeindruckendes Stück Zeitgeschichte. Unsere Unternehmen in den Landkreisen Gießen, Vogelsberg und Wetterau schaffen die Basis einer offenen, innovativen Gesellschaft. Sie sind mit den Wirren und Herausforderungen der Zeit umgegangen und haben immer wieder ihre Innovationskraft gezeigt. Nur so erhalten sich unser Wohlstand und unsere Zukunftsfähigkeit. Das stärkt die Unternehmen, aber auch unsere Gesellschaft insgesamt.

Wo sehen Sie die heutige Rolle der IHK in der Wirtschaftslandschaft und im gesellschaftlichen Leben?

Als IHK sind wir das Sprachrohr unserer Unternehmen. Wir kommentieren wirtschaftspolitische Entscheidungen und setzen uns für die Unternehmen direkt in Berlin, Wiesbaden und vor Ort ein. Zum Beispiel haben wir uns in der Corona-Krise für wesentliche Verbesserungen von Hilfsmaßnahmen zu Gunsten unserer Mitglieder eingesetzt. Eine weitere wichtige Säule ist unser hoheitlicher Auftrag. Das bedeutet, dass der Staat seine Befugnisse ganz bewusst an die IHKs abgibt, weil er sich sicher ist, dass eine wichtige Aufgabe wie berufliche Bildung bei den regional verankerten IHKs besser aufgehoben ist. Gesellschaftlich sind wir als IHK eine Art Zugmaschine für erfolgreiches Wirtschaften - davon profitiert die Gesellschaft beispielsweise mit Blick auf Arbeitsplätze.

Was bewerten Sie rückblickend als größte Erfolge?

Blickt man auf die letzten zwei Jahrzehnte zurück, dann ist unser größter Erfolg die gelungene Fusion zwischen den ehemaligen IHKs Gießen und Friedberg. Die IHK-Beiträge konnten in der Folgezeit um 25 Prozent gesenkt werden und das Leistungsangebot wurde deutlich ausgebaut. Vorbildlich und für den Erfolg entscheidend war das planvolle, gemeinsame Vorgehen von Haupt- und Ehrenamt. Unser Hauptgeschäftsführer Dr. Matthias Leder, der mittlerweile seit über 20 Jahren diese Tätigkeit ausübt, hat immer wieder mit innovativen Ideen wichtige Anstöße gesetzt. Wir haben uns klare Ziele gesetzt und uns zur Mitmachorganisation für Unternehmerinnen und Unternehmer weiterentwickelt. Übrigens: Der Begriff Unternehmer-Mitmachorganisation (UMO), den wir als IHK erfunden haben, wird heute deutschlandweit und teilweise auch außerhalb des Kammerwesens benutzt.

Was ist in den vergangenen Jahrzehnten noch so alles gelungen?

Stolz sind wir auch darauf, dass wir 2003 durch die Ausübung der Geschäftsführung maßgeblich zur Gründung und erfolgreichen Etablierung des Regionalmanagements Mittelhessen beigetragen haben. Zu Beginn gab es durchaus einige Risiken zu tragen: So musste jemand das Arbeitgeberrisiko für die Beschäftigten übernehmen und innovative Ideen zum Aufbau tragfähiger Strukturen einbringen. Gemeinsam mit dem damaligen Regierungspräsidenten Wilfried Schmied und Vorsitzenden des Regionalmanagements, der ein unermüdlicher Antreiber war, ist uns dies, glaube ich, ganz gut gelungen. Weitere schöne Erfolge sind darüber hinaus unsere gemeinsame Initiative mit Händlern und Hauseigentümern bei den Gießener Business Improvement Districts (BIDs), die maßgebliche Beteiligung am Erfolg der Landesgartenschau 2014 in Gießen oder der Start unseres bundesweit im Einsatz befindlichen digitalen Baustellen-Portals.

Was ist dagegen nicht so gut gelungen, wäre aber noch wünschenswert?

Wir sehen ja seit Jahrzehnten, wie sehr wir immer wieder gefordert sind, die Grundpfeiler unserer Wirtschaftsordnung nach außen hin zu stärken. Wünschenswert wäre, wenn Unternehmertum eine viel stärkere Wertschätzung in unserer Gesellschaft erhalten würde. Wenn über Unternehmer im Fernsehen oder in der Presse berichtet wird, dann doch meistens in negativer Weise. Die Realität ist jedoch eine andere. Die allermeisten Unternehmer nehmen auch ihre soziale Verantwortung gegenüber ihrer Belegschaft und der Gesellschaft wahr.

Inwieweit kann die IHK auf die Politik einwirken?

Wir sind in einem kontinuierlichen Dialog auf verschiedenen Feldern mit der regionalen Politik. Beispiel Steuern: Wir beobachten bei den Grundsteuern die Entwicklung der Hebesätze sehr genau und signalisieren der Politik, dass versteckte Steuererhöhungen im Vorfeld der Umstellung auf ein neues Modell mit uns nicht zu machen sind. Beispiel Verkehrspolitik: Hier setzen wir uns dafür ein, dass der Schienenverkehr ausgebaut wird, ohne den Straßenverkehr zu vernachlässigen. Am Beispiel der gesperrten Autobahnbrücken kann man ja sehr schön nachvollziehen, dass man die verschiedenen Verkehrsträger nicht gegeneinander ausspielen sollte. Beispiel Energiepolitik: Der Ausbau der erneuerbaren Energie ist wichtig und richtig. Solange aber die Erneuerbaren Energien nicht grundlastfähig sind, setzen wir uns dafür ein, dass nicht alle grundlastfähigen Energieträger wie Kohle, Erdgas oder Kernkraft verbannt werden. Ein Blackout wegen Überlastung des Netzes hätte katastrophale wirtschaftliche und soziale Folgen.

Die IHK will auch ein »Motor für Innovation« sein: Wie wird dieses hehre Ziel in der Praxis umgesetzt?

»Motor für Innovation« bedeutet für uns, Teil der Lösung zu sein. In der Aus- und Weiterbildung bedeutet dies, dass wir beispielsweise Lehrgänge anbieten, die auf die Stärkung der Innovationskraft in den Unternehmen ausgerichtet sind. Ein noch junges Projekt ist unser Baustellen-Portal. Der Zweck besteht darin, Vermögensverluste, insbesondere Einkommensverluste, die durch Baustellen entstehen können, frühzeitig zu vermeiden. Dies geschieht dadurch, dass über eine deutschlandweite Plattform aktuelle und zukünftige Baustellen digital abgebildet werden. Dann können davon betroffene Unternehmen frühzeitig reagieren, sich für Ersatzparkplätze einsetzen und ihre Kunden, Zulieferer und andere Partner frühzeitig informieren. Ein innovativer Umgang mit Baustellen wird künftig wichtiger denn je sein, denn es liegen noch viele Infrastrukturmaßnahmen vor uns.

Wie unterstützt die IHK Start-ups und Jungunternehmer?

Dies geschieht über unsere IHK-Gründungsberatung und Informationsveranstaltungen. Wir decken hierbei alle wichtigen Fragen ab. Besonders freuen wir uns, dass wir im Gründungsprozess eine Reihe von Unternehmen begleiten können, die mit herausragenden Innovationen aufwarten. Dazu zählt beispielsweise das in Gründung befindliche Brandschutzunternehmen »Fisego«, das den Hessischen Gründerpreis in der Kategorie »Gründung aus der Hochschule« mit einem System gewonnen hat, das Brände in elektronischen Geräten selbsttätig erkennen, melden und auch löschen kann. Jetzt geht es darum, dass das Produkt in Großserie gefertigt wird. Leider muss man aber auch feststellen, dass die Zahl von Unternehmensneugründungen in Pandemiezeiten rückläufig ist.

Was glauben Sie, wie gut die heimische Wirtschaft und insbesondere die IHK-Mitgliedsunternehmen durch die Corona-Pandemie gekommen sind?

Die heimische Wirtschaft ist in unterschiedlichem Maße betroffen. Der stationäre Einzelhandel, die Reisewirtschaft und unternehmensbezogene Dienstleistungen wie die Veranstaltungsbranche haben immens gelitten. Letztere kam durch das auferlegte Berufsverbot faktisch zum Stillstand. Diejenigen, die überlebt haben, sorgen sich heute, wie sie Ersatz für die abgewanderten Fachkräfte finden. Als touristisch attraktive Region sind unsere vielen Gaststätten, Cafés und Hotels ebenfalls stark betroffen gewesen. Die IT-Dienstleister und die Baubranche haben dagegen durch die Pandemie zum Teil erheblich profitiert. Allerdings sind gerade Bauträger sehr von Lieferketten für Materialien abhängig und die Preise dafür steigen. Hoffen wir, dass die Politik im Interesse der Menschen und Unternehmen eine ehrliche, kritische Evaluation der vergangenen Maßnahmen durchführt, um aus den Erkenntnissen zu lernen und besser für die Zukunft aufgestellt zu sein.

Nun auch noch der Ukraine-Krieg: Könnten die Folgen für die heimische Wirtschaft dadurch noch schwerwiegender sein als durch die Pandemie?

Das lässt sich derzeit zwar noch nicht genau prognostizieren, aber das Potenzial dazu ist da. Die Energiepreise sind bereits dramatisch angestiegen. Deutschland hat sich in den vergangenen Jahrzehnten immer abhängiger von bestimmten Energien und Lieferanten wie Russland gemacht. So beziehen wir etwa 50 Prozent unseres Erdgases von dort. Das wirkt sich jetzt negativ aus. Dass es anders geht, zeigt die Schweiz. Dort ist die Abhängigkeit von Erdgas viel geringer, und der Anteil der Kernkraft beträgt 20 Prozent. Stichwort Inflation: Infolge des Krieges und der verhängten Sanktionen kommt es zu weltweiten Preisanstiegen für Nahrungsmittel. Grundnahrungsmittel werden hierzulande knapper, in manchen Ländern der Dritten Welt werden sie für viele Menschen sogar unerschwinglich mit all den sozialen Implikationen. Allmählich merkt sogar die Europäische Zentralbank (EZB), dass die Inflation in Europa keine Einbildung, sondern ein gravierendes ökonomisches und soziales Problem darstellt. Hier braut sich also eine Gemengelage zusammen, die das Potenzial hat, die negativen Folgen der Corona-Pandemie sogar noch zu übertreffen.

Wie hilft die IHK ihren Mitgliedern, durch die Krisenzeit zu kommen?

Auf der politischen Ebene geht es darum, der Politik zu vermitteln, dass sie keine Sanktionen beschließt, die die Wirtschaft zusammenbrechen lassen, etwa dadurch, dass man russisches Erdgas boykottiert. Ein Boykott oder sofortiger Ausfall russischen Gases hätte eben nicht nur zur Folge, dass Bayer und BASF zusammenbrechen, sondern auch sämtliche Zulieferer und Abnehmer der Waren. Wir sind Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck dankbar, dass er sehr frühzeitig diese Problemlage erkannt hat. Auf regionaler Ebene stellen wir unseren Unternehmen alle Informationen zu den EU-Sanktionen gegenüber Russland und Weißrussland über unsere Webseite, Newsletter, Soziale Medien und das IHK-Wirtschaftsmagazin bereit. Einzelberatungen zu den Themen Warenverkehr, Dienstleistungen, Finanztransaktionen, Ursprungszeugnisse und Carnet ATA sind, wie bisher auch, möglich. Uns sind leider auch Fälle von Unternehmen unseres Bezirks bekannt, bei denen das EU-Sanktionsregime gravierende Auswirkungen hat oder sogar zu Betriebsschließungen führen wird.

Was genau meinen Sie mit »EU-Sanktionsregime«?

Die regionale Wirtschaft wird durch Corona und Ukraine-Krieg schon jetzt sehr stark belastet. Deshalb setzen wir uns dafür ein, dass die Unternehmen nicht noch durch zusätzliche, zum Teil lebensfremde Regulierungen wie das europäische Sorgfaltspflichtenlieferkettengesetz belastet werden. Ich habe manchmal den Eindruck, dass manche europäische Entscheidungsträger noch nichts von den Nöten mittelständischer Unternehmer mitbekommen haben. Generell sollte auf politischer Ebene klug agiert werden und nicht mit Brachialgewalt.

Wenn Mitglieder fragen, was sie für ihren IHK-Jahresbeitrag bekommen, was antworten Sie darauf?

Zunächst freue ich mich über ihr Interesse. Dann frage ich, in welchem Bereich das betreffende Mitglied tätig ist, denn wir bieten viele verschiedene Branchendienstleistungen an. Zu den wichtigsten IHK-Leistungen zu Gunsten aller Branchen zählt die Sicherung von Ausbildung und Fachkräften. Darum beneidet uns fast die ganze Welt einschließlich solch ungleicher Staaten wie China und USA. Zu den weiteren wichtigen Dienstleistungen gehören die Exportförderung über Beratungen, die Vermittlung von Geschäftskontakten im Ausland oder die Ausstellung von Außenwirtschaftsdokumenten, die Existenzgründerberatung oder die Beratung bei Unternehmensnachfolgeüberlegungen. Besonders gefragt sind auch unsere Einstiegsberatungen im Bereich des Arbeits- und Steuerrechts. Also bei Fragen, die zum Beispiel für einen Steuerberater noch nicht interessant sind, für das jeweilige Mitglied aber sehr wohl.

Wie sollte die IHK Gießen-Friedberg der Zukunft aussehen?

Sie wird eine Unternehmer-Mitmachorganisation im besten Sinne bleiben und weiter auf Innovationskurs sein. 2024 stehen IHK-Wahlen an. Meine Hoffnung ist, dass sich viele Unternehmerinnen und Unternehmer beteiligen werden. Und dass sich der Anteil weiblicher Vollversammlungsmitglieder erhöht. Wir wollen eine starke Stimme der gesamten hiesigen Unternehmerschaft bleiben. Dafür brauchen wir das Engagement vieler Unternehmerinnen und Unternehmer. Und schließlich bedeutet IHK-Engagement nicht nur Netzwerken, es ist mehr als das. Wir sind ein Stück weit auch Familie und Heimat unserer Unternehmen.

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Schwarz © Red

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