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Steiler Anstieg der Messerattacken

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Von: Ingo Berghöfer

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Grund zur Sorge: Bei Straftaten im öffentlichen Raum wird laut Polizei immer häufiger ein Messer eingesetzt. Symbolfoto: dpa © Red

Der Polizei in Gießen bereitet es Sorgen, dass bei Straftaten im öffentlichen Raum immer häufiger eine Klinge im Spiel ist. Die Zahl habe sich binnen zehn Jahren vervierfacht.

Gießen . Eine Woche nach dem Jahreswechsel diskutiert das ganze Land noch immer über die Krawalle der Silvesternacht, die vor allem in Berlin, aber nicht nur dort ausgebrochen sind. Alte Debatten über gescheiterte Integration oder Migrantenquoten an Schulen werden neu geführt und die Stimmung ist, wie meist bei diesen Themen, gereizt. Während etwa der NDR-Mitarbeiter Andrej Reisin in einem längeren Beitrag eine Eskalation der Jahresend-Ausschreitungen im Vergleich zu den Vorjahren anzweifelt, hat nach Einschätzung des Düsseldorfer Intensivpädagogen Menno Baumann »die Gewalt gegen Einsatzkräfte in der Silvesternacht eine Dimension, die für Deutschland außergewöhnlich ist«.

Auch in Gießen machten in jüngster Zeit zwei Angriffe von Gruppen innerhalb einer Stunde Schlagzeilen. Gegen 2.20 Uhr hatten am 13. Dezember zehn bis 15 Männer im Alter zwischen 18 und 20 Jahren den Sicherheitsdienst einer Discothek in der Liebigstraße »überfallartig« mit Flaschen und Dosen attackiert und auf die Security-Mitarbeiter eingeschlagen (der Anzeiger berichtete).

Zufall oder Indiz?

Gegen 3.20 Uhr sprangen in derselben Nacht in der Klinikstraße vier unbekannte Männer aus einem weißen 3er BMW und griffen einen 29-jährigen Fußgänger mit Tritten und Schlägen an. Eine Verbindung zwischen beiden Taten sieht die Polizei nicht. Am 3. Januar kam es unweit des Bahnhofs kurz vor Mitternacht zu einer Schlägerei zwischen mehreren Personen, bei der ein 27-jähriger Eritreer durch einen Messerstich lebensgefährlich verletzt wurde.

Man kann sich also auch in Gießen die Fragen stellen, die gerade überall diskutiert werden. Ist das eine zufällige Anhäufung von Einzelfällen oder ein Indiz für eine wachsende Verrohung in der Gesellschaft? Zumindest die Antwort der Gießener Polizei fällt da eindeutig aus: »Wir müssen leider eine deutliche Zunahme von Widerstandshandlungen und Angriffen gegen Polizeibeamte in den vergangenen Jahren feststellen. Diese Taten befanden sich 2021 auf einem neuen Höchststand und haben sich in Mittelhessen in den vergangenen zehn Jahren fast vervierfacht«, sagt der Pressesprecher des Polizeipräsidiums Mittelhessen, Jörg Reinemer, auf Anfrage des Anzeigers. Die Mehrzahl der Taten entstehe bei niedrigschwelligen Maßnahmen wie etwa bei der Kontrolle von offenbar alkoholisierten Personen.

Im Landkreis und in der Stadt Gießen sei die Entwicklung vergleichbar. 2021 habe man hier 96 solcher Anzeigen aufnehmen müssen. »Tendenziell ist es 2022 ähnlich, das heißt die Zahl der Angriffe ist weiter auf dem hohen und somit besorgniserregenden Niveau«, so Reinemer.

Sorge bereite der Polizei auch, dass bei Straftaten im öffentlichen Raum immer häufiger ein Messer eingesetzt werde. »2010 hatten wir im Landkreis sowie in der Stadt 53 solcher Straftaten. Zehn Jahre später waren das bereits 175 solcher Taten.« In den vergangenen beiden Jahren hätten diese Zahlen auf einem ähnlich hohen Niveau verharrt. Auf Nachfrage erläutert Reinemer, dass in dieser Bilanz alle Straftaten mit dem »Tatmittel Messer« aufgelistet würden, also nicht nur Widerstandshandlungen und Angriffe auf Beamte. Nicht mitgerechnet sei dagegen der bloße Besitz einer unerlaubten Stichwaffe, wie sie mitunter bei einer Verkehrskontrolle oder einer Wohnungsdurchsuchung gefunden werden.

Bei den 2021 im Landkreis Gießen aufgenommenen Strafanzeigen wegen Widerstands- sowie Angriffshandlungen gegen Polizeibeamte wurden 86 Tatverdächtige ermittelt, die meisten davon waren männlichen Geschlechts. 39 dieser Personen waren ausländische Staatsbürger. »Was das Alter betrifft, so stellen wir fest, dass außer den Kindern alle Altersgruppen an diesen Delikten beteiligt waren«, sagt Reinemer.

Hemmschwelle sinkt

Auch Angriffe von mehreren Personen würden sich seit einigen Jahren häufen, weiß der Polizeisprecher. Solche Vorfälle stünden in einer Reihe mit Attacken auf Rettungskräfte oder Polizeibeamte. »Wir beobachten, dass die Hemmschwelle sinkt und die Gewaltbereitschaft steigt«, betont Reinemer - vor allem bei männlichen Jugendlichen und jungen Männern. Über die Ursachen dieser Straftaten und die Motive der Täter weiß die Polizei nur wenig. »Das ist schwer zu sagen. Wir müssen aber immer mehr feststellen, dass die Tatverdächtigen unter dem Einfluss von Alkohol oder Drogen stehen.«

Bei der Lösung des wachsenden Problems setzt man im Polizeipräsidium insbesondere auf Vorbeugung. Präventive Maßnahmen seien sehr wichtig, unterstreicht Reinemer. Dazu gehörten gleich mehrere der Polizei zur Verfügung stehende Einsatzmittel. »Wir haben in Gießen seit mehreren Jahren das Distanz-Elektroimpulsgerät, das sogenannte DEIG, im Einsatz.« Man habe die Erfahrung gemacht, dass oft schon das Androhen eines Taser-Einsatzes ausreiche, um erhitzte Gemüter abzukühlen. »Viele Personen lassen dann beispielsweise eine Waffe fallen, und es kommt zu keinen weiteren deutlich schwerwiegenderen Maßnahmen.«

Ein weiteres Mittel, das im Einsatz oftmals zur Deeskalation beitrage und potenzielle Täter abschrecke, sei die Body-Cam. Auch dienten die am Körper getragenen Videokameras als objektives Beweismittel für mögliche Strafverfahren.

Auch beim Universitätsklinikum Gießen und Marburg beobachtet man eine wachsende Verrohung der Sitten. Die Fälle, in denen etwa Mitarbeitern der Notaufnahme der Respekt verweigert oder diese gar bedroht würden, steige seit rund fünf Jahren kontinuierlich.

Respekt schwindet

Für die Leiterin der Berufsfeuerwehr Gießen, Martina Klee, verlief die Silvesternacht eher ereignisarm und ohne Übergriffe gegen Einsatzkräfte. Das gute Wetter und das Nachholbedürfnis nach zwei böllerfreien Corona-Jahreswechseln hätten dafür gesorgt, dass auf den Straßen viel los gewesen sei, dennoch habe es nur wenige und keine größeren Einsätze gegeben. Insgesamt betrachtet konstatiert auch sie, dass der früher stets vorhandene Respekt vor Rettungssanitätern und Feuerwehrleuten heute nicht mehr automatisch vorausgesetzt werden könne. Zwar habe es in den vergangenen Jahren nur wenige Vorfälle gegeben, in der ihre Kollegen im Einsatz beschimpft oder gar bedroht worden seien. Gerade weil diese Situationen so selten seien, hätten sie sich den Einsatzkräften aber umso deutlicher eingeprägt.

Innerhalb der Stadtverwaltung gibt es keine zentrale Erhebung von Bedrohungen und Gewalttaten. Laut einer 2021 durchgeführten »Psychischen Gefährdungsbeurteilung« seien Mitarbeiter der Stadtverwaltung in 64 Fällen bedroht und 23 Mal mit Gewalt konfrontiert worden. Elf Vorfälle wurden zur Anzeige gebracht, wie eine Anfrage der FDP-Fraktion an den Oberbürgermeister ergab.

Seit 2020 arbeite man an der Entwicklung eines gesamtstädtischen Konzepts zur Gewaltprävention. Für Stadtbedienstete und die Berufsfeuerwehr werden Schulungen für solche Situationen angeboten. Bei der Freiwilligen Feuerwehr gebe es diese aber noch nicht.

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