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Stillstand nicht nur auf Gleisen

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Von: Benjamin Lemper

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Drittes Gastspiel in Gießen: Diesmal hat sich die »Letzte Generation« im Schiffenberger Weg festgeklebt. Foto: Schäfer © Schäfer

Der Bahnverkehr rund um Gießen ist aufgrund des Warnstreiks von EVG und Verdi lahmgelegt. Obendrein haben »Klimakleber« der »Letzten Generation« den Schiffenberger Weg blockiert.

Gießen. Ein paar Pendler haben sich am frühen Montagmorgen doch an den Gießener Bahnhof verirrt. Obwohl im Vorfeld in sämtlichen Medien wiederholt auf den bundesweiten Warnstreik hingewiesen worden war, »gab es noch vereinzelt Reisende, die davon offenbar nichts mitbekommen, aber dann trotzdem mit viel Verständnis reagiert haben«, berichtet Klaus Zecher. Als Vorsitzender des Ortsverbandes Mittelhessen der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) bezog er ab 4 Uhr vor Ort Stellung, um einerseits »Rede und Antwort zu stehen« und andererseits angesichts von steigenden Energiepreisen und Inflation eine gerechtere Bezahlung für die Kolleginnen und Kollegen zu fordern. Mit dem Protest zeigt er sich zufrieden. Die Beteiligung sei »extrem gut« gewesen - so gut, dass im Bahnverkehr nichts mehr ging. Und als wäre das nicht genug, blockierten obendrein drei Aktivisten der »Letzten Generation« ab halb acht stadteinwärts den Schiffenberger Weg. Das sorgte wiederum an den Abfahrten vom Gießener Ring für massive Staus. Um kurz nach 9 Uhr gelang es der Polizei, die »Klimakleber« mit haushaltsüblichem Öl und Holzspateln von der Straße zu lösen. Sie mussten zur Identitätsfeststellung mit auf die Wache. Ein Strafverfahren wegen Nötigung im Straßenverkehr wurde eingeleitet. Geprüft werde zudem, ob ihnen die Kosten auferlegt werden können.

Hohe Beteiligung

Ein leises Hämmern schallt über die Gleise. Unter normalen Umständen sind die Arbeiten am Gebäude der Hessischen Lehrkräfteakademie im Stimmengemurmel und Zuggetöse kaum wahrnehmbar. Aber dieser Montag ist eben nicht normal. Die Bahnsteige sind verwaist. Selbst an Gleis 4, sonst belebter Startpunkt für die meisten Züge nach Frankfurt, hält sich am Vormittag niemand auf. Reinigungskräfte nutzen die Gelegenheit, Mülleimer zu leeren. Auch in der Wartehalle haben es sich nur wenige Menschen auf den Bänken bequem gemacht. Am Serviceschalter sind die Rollläden heruntergelassen. »Dieser Betrieb wird bestreikt«, ist auf einem Schild zu lesen. Das gilt zwar nicht für die Bäckerei, Kunden sind aber auch dort nicht zu finden, trotz gut gefüllter Theke.

»Der Streik der EVG hat den Bahnverkehr nahezu vollständig zum Erliegen gebracht. Der Fernverkehr hat den Betrieb eingestellt, auch im Regionalverkehr der DB fahren seit Betriebsbeginn keine Züge mehr«, teilt eine Bahnsprecherin auf Anfrage des Anzeigers mit. Der Güterverkehr sei ebenfalls weitgehend zurückgehalten worden, »um nach dem Streik ein rasches Anfahren des Zugbetriebes zu ermöglichen«.

Ab 5 Uhr »waren wie angekündigt alle Strecken rund um Gießen dicht«, bilanziert Klaus Zecher. Denn die Bereitschaft zu streiken, sei »überdurchschnittlich hoch« gewesen - »höher als erwartet«. Allein am Standort Gießen hätten 90 Prozent der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mitgemacht. Das reichte von Lokführern über Zugbegleiter, Fahrdienstleiter und Reinigungskräfte bis hin zu Kollegen aus den Werkstätten und der Instandhaltung. Gleichwohl räumt der EVG-Vorsitzende ein, dass ihn die beachtliche Resonanz selbst überrascht habe. Üblich seien nämlich »kleinere Nadelstiche«. Für einen »Warnstreik in dieser Dimension«, zu dem Verdi und EVG aufgerufen hatten, fehlten dagegen die Erfahrungswerte. Nicht zu vergessen, dass bei einem Warnstreik kein Lohnersatz gezahlt werde, die Streikenden also auf eigene Kosten in den Ausstand treten.

Dieser Einsatz verdeutliche daher, dass es den Beschäftigten mit ihrem Anliegen sehr ernst sei. »Der Streik ist unsere einzige Chance, den Druck zu erhöhen, denn die Personalsituation wird immer prekärer«, betont Zecher. Die Konsequenz seien noch mehr Zugausfälle. Insofern gehe es hier »auch um einen Kampf für den Erhalt des Schienenverkehrs insgesamt«, unterstreicht der Gewerkschafter. Und fügt hinzu: »Die Verkehrswende kann nur mit qualifizierten und angemessen entlohnten Mitarbeitern funktionieren.«

Die Verkehrswende gehört auch zu den Zielen der »Letzten Generation«. Und die schaute nun bereits zum dritten Gastspiel in Gießen vorbei, diesmal erneut im morgendlichen Berufsverkehr, in dem wegen des Streiks und des lahmgelegten ÖPNV gewiss noch mehr Autos unterwegs gewesen sein dürften als sonst. Zwei Aktivisten klebten sich im Schiffenberger Weg fest, der dritte in der Mitte verzichtete darauf, um im Notfall zumindest eine Rettungsgasse offenhalten zu können. »Wir sind hier, weil wir von der Regierung Schutzmaßnahmen für die Menschheit verlangen. Nur dafür gibt es keinen guten oder schlechten Tag. Das ist leider nötig, schön ist es nicht«, sagt Stefan Diefenbach-Trommer.

Gewaltfreier Protest

Speziell um Gießen gehe es dabei zwar nicht, aber um grundsätzliche Aufmerksamkeit. »Ich teile die Verzweiflung vieler jüngerer Menschen angesichts der Klimakrise - auch darüber, dass viele Menschen meiner Generation diese Verzweiflung ignorieren. Schließlich stehen unsere Demokratie und unsere Freiheitsrechte auf dem Spiel«, argumentiert der 51-jährige Journalist. Seine Frau Jana Trommer, 53 und Diplom-Psychologin, ergänzt: »Der gewaltfreie Protest ist legitim und notwendig, um das Gemeinwohl heute, weltweit und für zukünftige Generationen zu schützen.« Statt die Klimakrise zu verhindern, verfolge der demokratische Rechtsstaat diejenigen, die den Alltag störten - so wie ihre Tochter Irma, die sich in Berlin vor Gericht verantworten müsse. Die Störung, die den motorisierten Verkehr beeinträchtigte, war am Montagmorgen jedenfalls gewaltig. Immerhin hatten die Aktivisten einen der Hauptzufahrtswege aus dem Osten des Landkreises sowie von der A 485 aus Norden und Süden für ihre Zwecke ausgewählt. Freiwillig räumten sie ihren Platz nicht. Die Polizei sperrte alsbald von Norden her die Abfahrt Schiffenberger Tal. Bis dahin war der in Richtung Innenstadt fließende Verkehr kurzzeitig über den Radweg an den Aktivisten vorbeigeleitet worden. Die Lkw indes mussten umdrehen. Im Rundfunk wurde appelliert, den Bereich weiträumig zu umfahren.

In einem Brief hatte die Bewegung auch Oberbürgermeister Frank-Tilo Becher gebeten, die Forderungen der »Letzten Generation« zu unterstützen und dies an Bundestag und Bundesregierung zu adressieren. Sollte dies geschehen, würden die Klebeaktionen in Gießen nicht fortgesetzt. Doch während etwa Marburgs OB Thomas Spies dem nachgekommen ist, sei die Antwort von Becher ausgeblieben, moniert Diefenbach-Trommer. Bereits Anfang März hatte der Sozialdemokrat aber gegenüber dieser Zeitung erklärt: »Ich sehe die Politik des Magistrats und der Koalition als eine Solidarisierung mit dem thematischen Anliegen des Klimaschutzes: Wir haben nicht nur beschlossen, 2035 klimaneutral zu sein. Wir unternehmen auch jeden Tag etwas dafür, damit dies gelingt. Dafür braucht es keine Briefe nach Berlin.«

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Entschlossen: die Streikenden vor dem Gießener Bahnhof. Foto: Sonja Gondolf © Sonja Gondolf

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