»Tanz hat sich hier etablieren können«

Abschied: Ballettdirektor Tarek Assam hinterlässt nach zwei Jahrzehnten am Stadttheater Gießen tiefe Spuren. Nun will er sich »ein Stück weit neu erfinden«.
Gießen. Zu Beginn seiner Arbeit in Gießen dachte der weitgereiste, in Bayern, Kairo und Bonn aufgewachsene Tarek Assam, er bleibe vielleicht vier, fünf Jahre am Stadttheater. Daraus wurden schließlich zwei Jahrzehnte, in denen er als Ballettdirektor und Chefchoreograf die Tanzcompagnie Gießen geformt und geprägt hat. Nun endet diese Ära. Der 60-Jährige wird das Haus zusammen mit Intendantin Cathérine Miville verlassen und in der kommenden Spielzeit eine neue Aufgabe am Nordharzer Städtebundtheater (Halberstadt, Quedlinburg) übernehmen. Klar ist aber schon jetzt, dass er tiefe Spuren im hiesigen Tanztheater hinterlassen hat.
Eigenes Profil entwickelt
Als er nach Gießen kam, habe er eine »gute Compagnie und schöne Produktionen« vorgefunden, erinnert sich der Deutsch-Ägypter im Gespräch mit dem Anzeiger. Die Gruppe »war gut trainiert, modern und zeitgenössisch orientiert« Allerdings wurde damals bis zu einem gewissen Grad versäumt, darüber nachzudenken, wie man das Publikum mitnimmt«. Assam war es daher wichtig, dass seine Compagnie - ohne die gleichen finanziellen Mittel zu haben wie die benachbarten Staatstheater und Tanzensembles in Kassel, Darmstadt und Wiesbaden - ein eigenes Profil entwickelt. Ein rein klassischer Ballettabend wie »Schwanensee« sei mit dem kleinen Ensemble in Gießen zwar nicht zu realisieren. Dennoch verstand er die kleinere Gruppengröße künstlerisch auch als Stärke: Die Stücke konnten unter zeitgenössischen Tanz-Gesichtspunkten entwickelt werden, Reisen waren leichter zu organisieren, internationale Tourneen in alle Welt dienten der künstlerischen Horizonterweiterung seiner Tänzer: »Es schärft das Profil.«
Neues und anderes auf die Tanzbühne zu bringen: so lautete das vordringliche Ziel, um das Publikum dauerhaft neugierig zu machen. Dafür sorgte die Diversität des Ensembles und die Unterschiedlichkeit der Programme. Wichtig war Assam zudem stets die Gastfreundschaft seines Hauses. »Wer eingeladen war, sollte das Gefühl bekommen, hier willkommen zu sein.« So nahmen viele Ensembles »vielleicht nicht das große Geld mit nach Hause, aber sie erhielten den Respekt und die Wertschätzung des Publikums und der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Theaters Gießen«. Und sie kamen gerne und häufig wieder.
Ebenso zahlreich waren die internationale Anfragen: Das Ensemble trat etwa in Rom, Warschau oder Prag mit ihren Stücken auf. Und erarbeiteten sich damit einen internationalen Ruf, »was für ein Stadttheater vielleicht nicht ganz üblich ist«.
Entstanden ist durch diesen Austausch in beide Richtungen ein breiter Fächer verschiedenster choreografischer Handschriften, der nicht zuletzt durch das TanzArt-Festival ostwest intensiv befördert wurde. Das gründete Assam vor 25 Jahren zusammen mit elf Mitstreitern aus ganz Deutschland, um trotz geringer Budgets unterschiedliche künstlerische Traditionen miteinander zu verbinden. Er entwickelte sich zum Kopf dieses Netzwerks, das mittlerweile nach ganz Europa und sogar bis ins chinesische Shenzen reicht. Zahlreiche internationale Ensembles waren so in Gießen zu erleben - zuletzt vor wenigen Wochen.
Auch sein Nachfolger Constantin Hochkeppel ist einst als Gasttänzer beim Festival aufgetreten. Ob TanzArt aber weiter eine Heimat in der Stadt hat, kann der scheidende Ballettdirektor nicht beantworten. Das Programm des TanzArt-Netzwerks ist nicht an einen Ort gebunden, auch wenn es etabliert ist und ein großes, treues Publikum gefunden hat. »Ich weiß nicht, ob die neue Hausleitung und der neue Spartenleiter ein Interesse daran haben.«
Was Tarek Assam als »sehr schön« aus Gießen zu seiner nächsten Station in den Harz mitnehmen wird, ist die Offenheit und Neugier des Publikums ebenso wie die Unterstützung aus dem eigenen Haus. »Manches hat geklappt. Manches hat nicht ganz geklappt. Und es gab natürlich Reibungsverluste. Aber nie ist etwas völlig in die Hose gegangen«, bilanziert er. Zum Interesse an der Arbeit der Compagnie beigetragen hat für ihn auch der enge Kontakt zur Gießener Stadtgesellschaft. So haben die Tänzer etwa mit chronisch kranken Kindern im Universitätsklinikum daran gearbeitet, wie man mit dem eigenen Körper umgeht. Kooperationen gab es etwa auch mit der Kunsthalle und dem Oberhessischen Museum, den Johannitern, der Evangelischen Kirche, dem Mathematikum und der Sport-Universität.
Bei allem Renommee, den sich die Gießener, international besetzte Compagnie erarbeitet hat: Kann die Nischenkunstform Tanz irgendwann unter existenziellen Druck geraten, sollte es große Haushaltslöcher in den Kassen von Stadt und Landkreis zu stopfen geben? »Ich halte das für hypothetisch«, entgegnet Assam bestimmt. »Es gibt ein klares Bekenntnis zum Drei-Sparten-Theater. Ich hoffe sehr, dass wir dazu beitragen konnten, dass es wenig Diskussionen über Einsparpotenziale in der Sparte Tanz gibt.« Der Tanz habe sich in Mittelhessen etablieren können und eine Position erarbeitet«, ist er überzeugt.
Ensemble löst sich weitgehend auf
Das Ensemble in seiner aktuellen Form löst sich nun allerdings weitgehend auf und wird neu zusammengestellt. Während seine eigene Zukunft dorthin führt, wo er seine Karriere als Choreograph einst begonnen hat. Der Sohn eines ägyptischen Diplomaten und einer deutschen Archäologin selbst kam übrigens durch einen Zufall zu seiner Berufung. Da er als ältestes Kind der Familie die Aufgabe übernahm, die Schwester vom Ballettunterricht in Bonn abzuholen, wurde er von deren Lehrerin angesprochen: »Wenn du hier rumsitzt, kannst du auch gleich mitmachen.« So trainierte er mit, bekam Spaß an der Sache und erhielt schließlich eine Tanzausbildung an der Musikhochschule Köln.
Von dort ging es als klassisch ausgebildeter Tänzer an die Oper Düsseldorf, ans Hessische Staatstheater Wiesbaden und ans Stadttheater Pforzheim, wo er sich intensiv mit dem zeitgenössischem Tanz beschäftigt hat. »Dort habe ich viele Workshops besucht und mir oft die Knochen angestoßen«, lacht der stets ruhig und reflektiert auftretende Assam. Und in Pforzheim begann er nach ein paar Jahren auch zu choreografieren.
So wurde er nach weiteren Stationen 1995 Choreograf und Ballettdirektor am Nordharzer Städtebundtheater in Halberstadt. Bis ihn fünf Jahre später Gießens neue Intendantin Cathérine Miville nach Gießen lockte. Nun kehrt Assam zurück an seine alte Wirkungsstätte im Nordharz. Sein Ziel ist es, den zeitgenössischen Tanz stärker in Sachsen-Anhalt zu etablieren. Es ist »eine Chance, dass Tanz sich in dieser Region nochmal ganz anders definieren kann«.
Gleichzeitig verhehlt Tarek Assam nicht, dass es ihm schwerfällt, die Stadt nun zu verlassen. »Gießen wurde mir zur Heimat, auch wenn wir alle uns ab und an ein Stück weit neu erfinden müssen«. Er würde sich jedenfalls sehr freuen, wenn der Kontakt in die Stadt, die ihm in 20 Jahren zur Heimat geworden ist, nicht verloren geht.
Ovids »Metamorphosen« erzählen vom ewigen Wandel und vom Neubeginn. Mit diesem Stück wird die Spielzeit 2021/22 ebenso wie die 20-jährige Intendanz von Cathérine Miville am Stadttheater Gießen abgeschlossen. Dieses Mehrspartenprojekt wurde von allen Ensembles und Kollektiven des Hauses konzipiert, viele von ihnen stehen am Samstag, 16. Juli, um 19.30 Uhr zum letzten Mal zusammen auf der Bühne und verabschieden sich vom Gießener Publikum. Eine Abschiedsvorstellung wird es auch für den Gießener Ballettdirektor Tarek Assam sowie den Generalmusikdirektor Florian Ludwig. (red)