»Tiefdunkler Tag der Geschichte«

Gießen erinnert an die Deportation der letzten jüdischen Bürger der Stadt vor 80 Jahren
Gießen . Paula Levy, Ignatz Pfeffer, Renée Rosenbaum und Berta Strauß - das sind nur einige der jüdischen Gießener, an die am gestrigen Freitag auf dem Pausenhof der Goetheschule erinnert wurde. Anlass war der 80. Jahrestag der Deportation der letzten in Gießen und Umgebung verbliebenen Juden. Mitte September 1942 wurden Levy, Pfeffer, Rosenbaum, Strauß und 346 weitere Menschen von Gießen aus nach Darmstadt und von dort in Vernichtungslager transportiert. Ihre Namen waren nun am Pavillon auf dem Schulhof zu lesen, Sternchen verwiesen auf diejenigen, die den Holocaust überlebt haben. Doch um auf den langen Listen die Menschen zu finden, die befreit wurden, musste man lange suchen: Lediglich sechs der 150 Gießener haben überlebt.
Deportation »am helllichten Tag«
Pfarrer Cornelius Mann erinnerte daran, dass der Großteil der Gießener Juden die Stadt in Folge der Ausgrenzung, Diskriminierung, Entrechtung und Verfolgung schon lange zuvor verlassen hatte - in Richtung Frankfurt, in Nachbarländer und »die ganz Glücklichen konnten sich nach England, in die USA oder nach Palästina retten«.
Übrig geblieben seien die Letzten von mehr als 1000 Gießener Juden, »die Alten und Schwachen, die Familien mit Kindern, die, die es sich nicht leisten konnten und die, die sich nicht vorstellen konnten, dass das Schlimmste längst beschlossene Sache war und mit deutscher Gründlichkeit umgesetzt wurde«. Und auch wenn das Morden nur von wenigen begangen worden sei, habe der Abtransport der Menschen doch »am helllichten Tag« stattgefunden und sei den übrigen Gießenern nicht verborgen geblieben.
An das Leid der jüdischen Mitbürger könne man heute »nur mit Scham und Trauer« erinnern. Dass es heute in Gießen wieder jüdisches Leben und eine jüdische Gemeinde gibt, grenze angesichts des Holocausts »an ein Wunder«.
Eingeladen zu der Gedenkstunde, an der rund 70 Personen teilnahmen, hatte die Stadt gemeinsam mit der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Gießen-Wetzlar. Schüler und Schülerinnen der Goetheschule und der Ricarda-Huch-Schule gaben einzelnen Opfern des nationalsozialistischen Rassenwahns ein Gesicht, in dem sie ihre Lebensgeschichte nachzeichneten.
Besonders erinnert wurde dabei an die Familie von Nathan Hans Goldschmidt, die 1942 in die Liebigstraße 37, damals ein jüdisches Ghettohaus, umziehen musste. Goldschmidt wurde im September 1942 zusammen mit seiner Frau und den drei Töchtern von Gießen über Darmstadt in das besetzte Polen deportiert. Den Holocaust hat er nicht überlebt.
Die Veranstaltung zeige, »dass wir die Opfer der Shoa nicht vergessen und diesen tiefdunklen Tag der Stadtgeschichte nicht verdrängen«, sagte Oberbürgermeister Frank-Tilo Becher. Der Rathauschef verwies auf die »perfide Nazibürokratie«, mit der der damalige Oberbürgermeister Heinrich Ritter die Deportation der Gießener Juden vorbereitet und durchgeführt hatte: Die Turnhalle sowie ein Stockwerk der Goetheschule wurden für die Unterbringung der Menschen genutzt, Landwirte karrten leihweise Stroh heran und »auch die Stadtwerke führten Buch über die Transportkosten«. Nach der Deportation verkündete Ritter, die Stadt sei »judenrein«.
Becher zitierte aus dem Schreiben, mit dem die Juden aufgefordert wurden, sich in dem Transit- und Sammellager in der Schule einzufinden: »Wir bitten Sie herzlich, Ruhe zu bewahren.« In einem »freundlichen und verlogenen Ton« seien gar Tipps für die Abreise und das richtige Gepäck gegeben und von einer bevorstehenden »Evakuierung« gesprochen worden - »so als ob unsere jüdischen Mitbürger vor einer Naturkatastrophe geschützt werden sollten«.
Der Sozialdemokrat verwies auf einen Bericht des Bundesamts für Verfassungsschutz, wonach die Zahl antisemitischer Straftaten kontinuierlich ansteige. Die Stadt wolle daher ihre Bemühungen gegen Antisemitismus weiter verstärken »und jüdisches Leben in Gießen sichtbarer machen«. Kantor Eugen Medowoj trug zum Abschluss das Kaddisch vor. Schüler und Lehrer umrahmten das Gedenken musikalisch.