»Tolerant, respektvoll, anständig«

Seit rund einem Jahr ist Joachim Grußdorf von den Grünen Stadtverordnetenvorsteher in Gießen. Im Interview spricht er über seine Rolle im Parlament und darüber, was ihm zurzeit Sorgen bereitet.
Gießen. In der Sache klar, bisweilen auch hart. Im Umgang miteinander anständig, fair und respektvoll. Das ist der demokratische Stil, über den Joachim Grußdorf seit rund einem Jahr als Stadtverordnetenvorsteher wacht. Im Interview spricht der Politiker von den Grünen über seine Rolle im Stadtparlament, den eigenen Stil und seine Entscheidung für das Amt. Sorgen machen ihm aktuell die Querdenker-Szene und Vorwürfe der Scheindemokratie.
Sie sind seit etwa einem Jahr im Amt. Haben Sie schon bereut?
Nein, bereut habe ich es nicht. Aber das ganze letzte Jahr war ein Learning-by-doing für mich. Es ist erstaunlich: Obwohl ich ja schon eine ganze Zeit im Geschäft war, habe ich die Aufgaben des Stadtverordnetenvorstehers nur aus Plenumssicht gesehen. Den Hintergrund, was alles zu tun ist, habe ich nicht gesehen. Und so richtig in die Leitung einer großen Versammlung hereinzukommen, bedurfte auch für mich einige Zeit. Die Sitzungen in den großen Sälen sind eine Herausforderung - meinen Stil habe ich nach der »legendären« Sitzung am 30. September gefunden. Bei der Versammlung in Allendorf ist einiges schiefgegangen.
Wie beschreiben Sie Ihren Stil?
Die Konsequenz war für mich, noch kooperativer zu arbeiten. Und mit meinen Stellvertreter/innen abzusprechen, dass in den großen Sälen immer eine oder einer neben mir sitzt. Denn mit einem Auge sehe ich nicht mehr so gut.
Warum haben Sie sich für dieses Amt entschieden?
Als wir die Listenaufstellung für die Wahl 2021 hatten, habe ich mit Klaus-Dieter Grothe rumgeflachst: Mensch, was passiert denn, wenn wir die stärkste Fraktion werden sollten und die Frage des Stadtverordnetenvorstehers ansteht? Klaus-Dieter hat gesagt: »Das wird dann wohl zwischen uns entschieden - aber ich wäre froh, wenn Du das machst.« Dann kam es so.
Wie ging es weiter?
Ich wurde tatsächlich gefragt, habe ein paar Tage überlegt und mich mit meiner Frau besprochen. Und mit einem engen Freund. Letztlich fühle ich mich fit und hatte mich schon zur Kommunalwahl entschieden, noch für eine Periode zu kandidieren. Als Konsequenz daraus habe ich dann auch die Rolle als Stadtverordnetenvorsteher übernommen.
Haben Sie als Sitzungsleiter manchmal Lampenfieber?
Inzwischen nicht mehr. In den ersten drei Monaten hatte ich immer ein bisschen Lampenfieber, aber mittlerweile habe ich Routine.
Wie viel Pädagoge muss man als Stadtverordnetenvorsteher sein?
Das ist schwer zu sagen. Vielleicht spielen drei Momente eine Rolle: eine gute Vorbereitung auf die Sitzung, den Überblick bewahren und auch in schwierigen Situationen Ruhe zu vermitteln.
Kann man Sie als Wächter des demokratischen Stils bezeichnen?
Ja, das ist mir ganz wichtig. Ich hatte das auch in meiner ersten Rede gesagt: Worauf ich besonderen Wert lege ist das, was man mit einem vielleicht etwas großen Wort als »Würde des Stadtparlamentes« bezeichnet. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass wir uns alle an die Regeln halten sowie tolerant, respektvoll und anständig miteinander umgehen. In der Sache muss hart verhandelt werden. Aber wir müssen uns auch klar darüber sein, was unsere Gemeinsamkeiten sind.
Wie erleben Sie den politischen Stil in der Stadtverordnetenversammlung?
Das ist eine neue Stadtverordnetenversammlung, auch durch die neue und sehr aktive Fraktionsgemeinschaft Gigg+Volt. Es wird langsam etwas ruhiger, nachdem einige Zeit Aufregung geherrscht hat. Sagen wir es so: Unsere Stadt ist bunt und vielfältig und hat immer viele Aufregerthemen. Das spiegelt sich im Parlament. Ich könnte mir manchmal einen unaufgeregteren Diskussionsstil vorstellen. Aber das ist Sache des einzelnen.
Nach der Wahl sind viele »Neue« in die Stadtverordnetenversammlung eingezogen. Wie bewerten Sie das?
Besonders schön finde ich den gestiegenen Anteil der jungen Generation. Was mich daran besonders beeindruckt, ist, dass sie auch bei ganz unterschiedlichen Meinungen anständig miteinander umgehen. Das ist ganz anders als in meiner Generation, in der der harte Konflikt sehr dominant war.
Wir leben in aufgeregten Zeiten: Aktivisten blockieren Kreuzungen, »Spaziergänger« und Querdenker sind durch Gießen gezogen. Wie nehmen Sie das wahr?
Bestimmte aktivistische Formen finde ich kontraproduktiv. Zum Beispiel die Besetzung einer Ampel im März oder das Abseilen von Autobahnbrücken. Um Anliegen wie die Verkehrswende durchzusetzen, brauchen wir eine breite gesellschaftliche Mehrheit. Das müsste jedem klar sein. Aber solche Aktionen schrecken eher ab. Der Ansatz der Querdenker-Szene, sich die Welt in einer neuen Sicht zu denken, die mit überprüfbaren Fakten nichts zu tun hat, macht mich ratlos.
Macht Ihnen das Sorgen, wenn wir auf die demokratische Entwicklung des Landes schauen?
Wir sollten uns Sorgen machen. Ich habe vor Kurzem eine Untersuchung von Allensbach gelesen, nach der bis zu einem Drittel der Bevölkerung - mit unterschiedlicher Gewichtung in Ost und West - unsere Demokratie als Schein-Demokratie bezeichnet. Das stützt sich auf altbekannte Ressentiments gegenüber etablierter Politik. Aber sie sind jetzt derart ausgeprägt, dass eben der Vorwurf des Scheins entsteht. Das finde ich außerordentlich gefährlich. Denn diese Ansicht ist offen für antidemokratische politische Parteien oder eine vollkommene Resignation. Beides ist höchst gefährlich.