»Tolle Reise« nähert sich dem Ende

Gut acht Monate nach dem ersten Spatenstich fand am Montag das Richtfest auf dem alten »Samen Hahn«-Gelände statt.
Gießen . Auf den letzten Metern einer scheinbar endlosen Odyssee geht es dann plötzlich ganz schnell. Die jahrzehntelange das Stadtbild auf eher unschöne Art prägende Brachfläche auf dem ehemaligen »Samen Hahn«-Gelände ist in Rekordzeit geschlossen worden. Gerade mal gut acht Monate nach dem ersten Spatenstich Mitte März feierte Bauherr Karim Shobeiri gestern mit rund 100 Gästen das Richtfest für den rund 35 000 Quadratmeter bebaute Fläche umfassenden Gebäudekomplex an der Ecke Reichensand/Bahnhofstraße.
Karims Vater Habibollah Shobeiri hatte das Grundstück samt dem damals noch stehenden »Samen Hahn«-Gebäude gekauft. In den folgenden drei Jahrzehnten konnten sich Shobeiri Senior und die Stadt nicht über dessen künftige Nutzung einigen. Ein steter Zankapfel war auch das denkmalgeschützte Gebäude, das Habibollah Shobeiri lange Zeit vergeblich abreißen wollte.
Erst mit dem Generationenwechsel in der Familie Shobeiri und dem nicht mehr zu vermeidenden Abriss des mittlerweile vom Zahn der Zeit zernagten Eckhauses kam neue Bewegung in die unendliche Geschichte, zumal Karim Shobeiri jetzt der Stadt Gießen das bietet, was diese im Moment wohl am dringendsten braucht: neuen Wohnraum und den noch in der Innenstadt.
Alles in Rekordzeit
In vier separaten sechsgeschossigen Gebäuden über einer gemeinsamen Tiefgarage entstehen derzeit 73 Wohnungen und etwa 4300 Quadratmeter vermietbare Fläche. Das vierte Gebäude, das das Erscheinungsbild des dort einst stehenden »Samen Hahn«-Gebäudes zitiert, ist als reines Geschäftshaus mit knapp 1000 Quadratmeter Gewerbefläche auf drei Etagen konzipiert.
»Wir hatten bis jetzt eine tolle Reise«, lobte der bestens aufgelegte Bauherr in seiner kurzen Ansprache vor allem das Bauunternehmen Atko aus Frankfurt, dem es gelungen sei, trotz Rezession, Inflation und Lieferengpässen das Großprojekt in Rekordzeit hochzuziehen. Auch hätten keine überraschenden archäologischen Funde in der Baugrube mitten im Stadtkern die Bauarbeiten verzögert.
Karim Shobeiri bedauerte nur, dass er vor acht Monaten keine feststehende Kamera an einem Baukran angebracht habe, um den Baufortschritt zu dokumentieren. »Das hätte mit Sicherheit einen eindrucksvollen Zeitrafferfilm ergeben«, meinte der Unternehmer, der nicht vergaß, darauf hinzuweisen, dass in Dubai, wo er längere Zeit gearbeitet habe, auf Baustellen noch ein ganz anderes Tempo angeschlagen werde.
Auf das Tempo, mit dem der Gebäudekomplex jetzt verwirklicht werde, ging auch Stadträtin Gerda Weigel-Greilich (Grüne) als einzige gestern erschienene Vertreterin der Stadt in ihrem kurzen Grußwort ein. Die Menschen müssten sich daran gewöhnen, dass wieder schneller gebaut werde, auch wenn diese Dynamik sicherlich nicht allen Menschen gefallen werde. »Ich persönlich finde es gut, wenn sich Dinge verändern«, sagte die Stadträtin.
Stadtbildreparatur
Nach »40-jähriger Reisezeit« sei es nun endlich gelungen, das Stadtbild an einer wichtigen Stelle zu reparieren. Man befinde sich gerade in einer Umbruchphase, betonte Weigel-Greilich, in der man lernen müsse, die Innenstädte neu zu denken. Wohn- und Arbeitsbereiche dürften künftig nicht mehr so scharf getrennt bleiben, wie bislang noch üblich. Alles gehöre zusammen und in die Innenstadt. Diesem Gedanken trügen auch die neuen Gebäude am Reichensand Rechnung.
Bauherr Shobeiri hatte ja bereits beim ersten Spatenstich den neuen Komplex als »zeitgemäße urbane Wohn- und Arbeitsstätte« gelobt. Dessen direkter Zugang zur angrenzenden Fußgängerzone, der fußläufig erreichbare Bahnhof oder der Haltepunkt am Neustädter Tor sowie das unmittelbar vor der Tür liegende städtische Erholungsgebiet an der Lahn, eine Vielzahl von Arztpraxen und anderer wichtiger Infrastruktur im Bereich von Dienstleistung, Handel und Gastronomie machten an diesem Standort die Nutzung des eigenen Autos nahezu überflüssig«, hatte Shobeiri damals betont.
Gestern lobte er ausdrücklich alle Bauarbeiter, die mit ihrem Einsatz auch unter widrigsten Umständen dazu beitragen würden, dass die für August 2024 anvisierte Fertigstellung wahrscheinlich früher stattfinden wird. »Ihr habt beim Bau der Tiefgarage weitergemacht, als das Wasser schon bis zur Fahrerkabine stand. Das habe ich nicht vergessen.«
Beispiel nehmen
An dem von den rund 150 Mitarbeitern auf der Großbaustelle an den Tag gelegten Tempo könnten sich übrigens auch öffentliche Bauträger ein Beispiel nehmen, bemerkte Shobeiri abschließend.
Musikalisch untermalt wurde das Richtfest von dem Akkordeonvirtuosen Muhamed Sehic. Der Bosnier mischte in seine Darbietungen gekonnt Balkan-Rhythmen mit Klezmer-Klängen.