Traditionelle Passionsvertonung

Sein 40-jähriges Dienstjubiläum als Kirchenmusiker an der Michaelskirche nahm Norbert Kissel nun zum Anlass, die Leidensgeschichte Christi zu vertonen.
Gießen . Am Neujahrstag 1983 trat Norbert Kissel mit gerade mal 22 Jahren sein Nebenamt als Organist und Chorleiter in der Wiesecker Michaelsgemeinde an. Sein 40-jähriges Dienstjubiläum als Kirchenmusiker an der Michaelskirche nahm er nun zum Anlass, die Leidensgeschichte Christi zu vertonen. Am Karfreitag um 15 Uhr wird »Passio Christi« im Gottesdienst zu hören sein. Die Passionsvertonung steht in Form und Tonsprache in der Tradition des 17. Jahrhunderts und beschränkt sich auf ein kleines Ensemble aus Soli, Chor und Orgel.
Mitwirkende sind dabei Melanie Ihm (Sopran), Susanne Groos (Alt), Roland Niebergall (Christus, Bass), Kapellmeister a.D. am Stadttheater Gießen Roland Schmiedel (Orgel) und der Chor der Gesamtkirchengemeinde Gießen Nord. Dessen Leitung obliegt mittlerweile Kissel, der bei der Aufführung zudem auch den Part des Evangelisten (Tenor) übernimmt.
Als Komponist hat der Leiter des Staatlichen Schulamts für den Landkreis Gießen und den Vogelsbergkreis bereits zu Beginn seines Engagements in Wieseck Geschichte geschrieben, als er 1987 Psalm 103 »Lobe den Herrn, meine Seele« vertonte. Mittlerweile hat sich dieses zuerst im Kirchenchor gesungene und als Kirchenchor-Kanon« bezeichnete Lied zu einem der populärsten modernen Kirchenlieder entwickelt und ist auch als Glockenspiel in Salzburg zu hören.
Es folgten weitere Kompositionen, von denen sich bei einer Internetsuche neun unter dem Namen des in Heckholzhausen (Gemeinde Beselich) aufgewachsenen und zum Lehramtsstudium nach Gießen gekommen Kissel finden. In der Universitätsstadt hat dieser die Lehrämter für Grund-, Haupt- und Realschulen mit den Fächern Deutsch, Evangelische Religion und Musik sowie das Fach Kirchenmusik studiert. Seine Lehrer waren dabei Paul Brendel, Dr. Karl Tittel und der langjährige Johanneskantor Prof. Gottlob Ritter. Neben der Malerei (wir berichteten) ist es vor allem die Musik, der sich Kissel in seiner Freizeit mit großer Intention widmet. Als Komponist von Kirchenliedern und anderen kirchenmusikalischen Werken wie mehreren Passionsvertonungen, Magnifikat, Kantaten, Chorsätze und Chorarrangements sowie Kompositionen für Orgel hat er nun »seiner« (mittlerweile übergegangen in die) Gesamtkirchengemeinde Gießen Nord zu seinem 40-jährigen Dienstjubiläum ein Geschenk in Form der Komposition »Passio Christi« gemacht.
Gesungener Vortrag hat Tradition
Dabei hat er sich auch mit der Geschichte der musikalischen Gattung Passion auseinandergesetzt, wobei unter dem Begriff Passion zunächst vor allem jene legendären Passionsspiele in Oberammergau in den Sinn kommen. Diese sind jedoch lediglich ein »Überbleibsel« einer einstigen Fülle an Passionsspielen. Seit dem frühen Mittelalter war es Brauch, im Rahmen der Passionsliturgie die Leidensgeschichte Christi nach einem der vier Evangelien singend vorzutragen. Seitdem hat sich diese musikalische Gattung stetig weiterentwickelt. War es anfangs noch ein einzelner Priester, der den biblischen Text in einem formelhaften Passionston vortrug, wurden später der Text gemäß den handelnden Personen auf mehrere Sänger aufgeteilt und die Passagen des Volks oder der Hohenpriester mehrstimmig gesetzt. Bibelfremde Lyrik trat hinzu, Kirchenlieder wurden aufgenommen und die Instrumentalbegleitung des Gesangs etabliert, bis diese Gattung (eine Passion ist also eine musikalische Gattung) ihre Vollendung erfuhr in den monumentalen Passionen Johann Sebastian Bachs.
Aber auch nach Bach faszinierte der Stoff die Komponisten und regte bis heute zur Vertonung an - und hier vor allem auch Kissel. »Wenn Kirchenmusikschaffende sich bis heute mit der musikalischen Umsetzung der Leidensgeschichte Christi beschäftigen, so folgen sie damit dem Aufruf des Psalmbeters: Singet dem Herrn ein neues Lied! (Psalm 98) ›Neu‹ ist hierbei nicht auf die Verwendung immer andersartiger musikalischer Ausdrucksmittel zu verengen, sondern verweist vielmehr auf das grundsätzlich Neue des Evangeliums: Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden (2. Korinther 5,17)«, so der Komponist.
Altbewährtes vor Innovation
Für seine Komposition nutzt er auch alte Tonsprachen: »Weil diese Tonsprachen überzeitlich sind und nie unmodern werden. Kirchenmusik ist kein Selbstzweck, sondern hat eine dienende Funktion. Für diese Funktion ist gleich, wie alt die Tonsprache ist, derer man sich bedient. Die Möglichkeiten, tradierte Elemente immer wieder neu zu kombinieren, ist nahezu unbegrenzt. Deshalb bin ich auch nicht auf der Suche nach neuen originären Ausdrucksmitteln, sondern nur auf der Suche nach Anlässen für Kirchenmusik.«
Als sein wichtigstes Anliegen nennt er dabei, dass seine Musik von möglichst vielen mitempfunden werden kann, »denn das ist für mich ein Hauptzweck von Kirchenmusik. Deshalb ist für mich die Auswahl der hierfür eingesetzten musikalischen Mittel auch zweitrangig. Ich leide nicht unter dem Zwang, noch nie Dagewesenes zu produzieren. In Kenntnis der jeweiligen Syntax bediene ich mich ausgesprochen gerne bewährter Tonsprachen«.
Aus der Zeit des 17. und 18. Jahrhunderts sind eine Reihe von Passionen in kleiner Besetzung überliefert. Diese Passionen sind Gestaltungselemente des Karfreitagsgottesdienstes, also liturgisch zweckgebunden. Die nun zur Aufführung kommende Passionsvertonung von Kissel, der ihr die damals übliche lateinische Bezeichnung »Passio Christi« gab, orientiert sich an dieser Tradition. Die meist diatonische, zuweilen chromatische Linienführung und das verwendete harmonische Material kann als eine konzeptionell in sich schlüssige Synthese aus barocker und frühromantischer Satzweise beschreiben werden, die bisweilen auch Gestaltungselementen späterer Epochen einbezieht. Insofern wirkt diese Vertonung des biblischen Stoffs meist tonal geschlossen, hält aber auch überraschende modulatorische Momente vor. Die Rezitative steigern insbesondere bei den Christusworten expressive Passagen. Die Passion gliedert sich in 13 Szenen, die durch Lied-Arien oder Chöre eröffnet und geschlossen werden.
