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Trauer und Dunkelheit statt »Yalda«

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Von: Rüdiger Schäfer

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Die Teilnehmer der Kundgebung auf dem Rathausplatz zeigen Solidarität für den Kampf um Freiheit und Menschenrechte im Iran. Foto: Schäfer © Schäfer

150 Teilnehmer beendeten ihre Demonstrationszug durch die Stadt Gießen auf dem Rathausvorplatz, um auf die Situation Gefangenerim Iran aufmerksam zu machen.

Gießen. Am 21. Dezember ist die »Wintersonnenwende«, auf Persisch Yalda (Wiedergeburt der Sonne). »Yalda«, ein altpersisches Fest, wird in der Regel im Iran sehr groß gefeiert. Aufgrund der politischen Situation herrsche im ganzen Land aber eine große Traurigkeit, so dass niemandem nach Feiern zumute sei, so in der Ankündigung von Demo und Kundgebung. »Die Iraner hier in der Stadt wollen diesen Anlass nutzen, um Gießener über die Lage der politischen Gefangenen im Iran zu informieren.«

150 Demonstranten setzten sich nach Angabe der Polizei am Unihauptgebäude in Bewegung, marschierten durch die Goethestraße, danach auf dem Anlagenring bis zur Bahnhofstraße und über den Marktplatz zur Abschlusskundgebung vor das Rathaus.

Das iranische Volk protestiere seit dem 16. September für Freiheit, Menschrechte, Minderheitenrechte und das Recht der Frauen auf Selbstbestimmung, sagte Asal Farahani auf dem Rathausplatz. Leila Rabipour trug die Rede auf Persisch vor. »Die Islamische Republik Irans hat mit massiver tödlicher Gewalt gegen die Proteste reagiert. Durch den Einsatz von Polizei, Miliz, Militär und Artillerie wurden Hunderte ihrer Bürger getötet, Tausende verhaftet, gefoltert oder vergewaltigt; unter ihnen auch Dutzende Minderjährige.« Allein 60 Kinder unter 17 Jahren seien in den letzten drei Monaten getötet worden.

Die Inhaftierten würden nicht nur »schrecklich und unmenschlich« behandelt, sondern bekämen auch keine medizinische Hilfe, »auch wenn sie Schussverletzungen haben und verbluten.« Das brutale Vorgehen gegen Demonstranten habe eine völlig neue Ebene erreicht, so die Rednerin.

Am 8. Dezember sei Mohsen Shekari, einer der inhaftierten Demonstranten, ohne ordnungsgemäßes Verfahren hingerichtet worden. »Er hatte keinen Zugang zu einem unabhängigen Anwalt und nicht die Möglichkeit, Berufung einzulegen.« Auch Majid Reza Rahnavard sei am Mittwoch, 21. Dezember, ohne Wissen der Familie öffentlich gehängt worden, nachdem ein »gefälschtes Gerichtsverfahren« abgehalten worden sei. Die Beamten des Regimes hätten damit deutlich gemacht, dass sie beabsichtigten, weitere Menschen hinzurichten.

Farahani sprach davon, dass in der Nacht des 21. Dezember die Menschen im Iran normalerweise zusammensäßen, um eines der ältesten iranischen Feste zu feiern. »Denn Yalda ist in der iranischen Kultur ein Zeichen für das Licht, für die Liebe, die Barmherzigkeit und das Mitgefühl. Jedoch ist Yalda in diesem Jahr die traurigste und längste Nacht in der Geschichte Irans.« Denn auch in dieser langen Nacht gingen Menschen im Land auf die Straße und kämpften gegen das brutale Regime - für Freiheit und Menschenrechte. Statt Yalda zu zelebrieren, riskierten sie ihr Leben, indem sie ihre Stimme erheben würden und Widerstand zeigten.

Immer wieder schrien sie laut: »Jen, Jian, Azadi!« (auf Deutsch: Frau, Leben, Freiheit), und das ohne Angst tagtäglich seit 14 Wochen. »Ein Teil dieser mutigen Revolutionäre ist leider nicht mehr unter uns.« Sie seien auf den Straßen von dem brutalen Regime ermordet oder nach wochenlangen Foltern hingerichtet worden. Ein Großteil von ihnen drohe im Gefängnis die Todesstrafe. »Sie warten jeden Tag auf ihren Tod.« Ihre Familien hätten seit Tagen, Wochen oder sogar Monaten keine Ruhe zu Hause. Sie verbrächten Yalda, dieses eigentlich schöne Fest, entweder auf den Friedhöfen oder warteten vor den Gefängnissen in der Hoffnung, von verhafteten Familienmitgliedern etwas Neues zu erfahren. »Im Gedenken an die politischen Gefangenen und ihre Familien haben wir uns heute hier versammelt, um unsere Solidarität mit ihnen und allen Iranern sowie afghanischen Einwohnern Irans zu bekunden, die sich für eine gerechte und freie Zukunft einsetzen.«

Wenn sich gewählte Vertreter öffentlich für einen politischen Gefangenen einsetzen, wird mehr Aufmerksamkeit auf ein Schicksal gelenkt. Ihre Fürsprache wird von den Medien aufgegriffen und dient so deren Schutz. Mehrere Mitglieder des Deutschen Bundestages, darunter Norbert Röttgen (CDU) und Janine Wissler (Linke), haben Patenschaften für einige der zum Tode verurteilten festgenommenen Demonstranten übernommen. Auch Oberbürgermeister Frank-Tilo Becher erklärte sich zu einer Patenschaft bereit. Becher am Mikrofon: »Wir rufen euch zu: Ja, wir sehen Euch und bleiben wachsam. Wir hoffen, dass die Proteste wirksam sind.« Er wünsche sich, dass »die Peiniger des iranischen Volkes zur Rechenschaft gezogen werden.« Becher: »Die Sittenpolizei ist ein Problem. Doch das Hauptproblem ist das Regime.« Die Leute im Iran müssten ihr Leben so führen dürfen, wie sie das möchten. Die Patenschaft für eine 22-jährige Studentin und Bloggerin übernehme er »sehr gerne«. Zudem solle sie weitläufige Verbindung zur Stadt Gießen haben, bemerkte er »nebenbei«.

Aus Sari stammt Bita Haqqani Nasimi, die am 26. Oktober von der Sicherheitspolizei festgenommen wurde. Sie habe sich 20 Tage lang in Einzelhaft befunden, während der es keine Informationen über sie gegeben habe. Nachdem sie das Verhörverfahren durchlaufen hätte, sei sie in das Qaimshahr-Gefängnis verlegt worden. Ohne ein einziges Gerichtsverfahren drohe ihr wegen »Verbreitung der Korruption auf Erden« eventuell die Todesstrafe. Becher sagte zu, sich mit dem iranischen Botschafter in Verbindung zu setzen. »Ich werde mich im Rahmen der Möglichkeiten einsetzen.«

Gießens Iraner bitten wegen der Hinrichtungsgefahr vieler anderer politischer Häftlinge »die politisch Verantwortlichen unserer Stadt«, weitere Patenschaften zu übernehmen.

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