Umbau kommt, aber später

Der tödliche Unfall eines Radlers zeigt: An der Kreuzung Marburger Straße/Sudetenlandstraße in Gießen muss etwas passieren. Die Stadt plant umfassende Veränderungen nach dem Verkehrsversuch.
Gießen . Auch gut eineinhalb Wochen nach dem tödlichen Unfall an der Kreuzung Marburger Straße/Sudetenlandstraße, bei dem ein 80-jähriger Radfahrer beim Rechtsabbiegen von einem ebenfalls in die Sudetenlandstraße abbiegenden Lkw erfasst und tödlich verletzt wurde, steht die Unfallursache laut Polizeisprecher Jörg Reinemer noch nicht fest. Viel spricht aber dafür, dass es sich um einen klassischen Abbiegeunfall handelt, bei dem Lkw-Fahrer Radler übersehen, weil diese sich im toten Winkel ihrer Fahrzeuge befinden. Alkohol war jedenfalls bei beiden Beteiligten nicht im Spiel, so Reinemer.
Das Übersehen von Radfahrern beim Rechtsabbiegen ist bundesweit eine der häufigsten Todesursachen von Radfahrern im Straßenverkehr. Zwar gibt es mittlerweile Abbiegeassistenzsysteme, die durch Kameras am Fahrzeug die toten Winkel beseitigen; solange die aber noch nicht vom Gesetzgeber vorgeschrieben sind, können nur die Kommunen durch straßenbauliche Maßnahmen diese Risikopunkte im Straßenverkehr entschärfen.
ADFC erneuert Kritik
In diesem Zusammenhang erinnerte der Kreisverband Gießen des Allgemeinen Deutsche Fahrrad-Clubs (ADFC) daran, schon vor sieben Jahren unter anderem eine bauliche Umgestaltung der Kreuzung gefordert zu haben, an der es jetzt zu dem tödlichen Unfall kam. Natürlich sei es aus Respekt vor dem Opfer und den Angehörigen verfrüht, gleich Schuldzuweisungen vorzunehmen, betont Vorstandsmitglied Dr. Jan Fleischhauer gegenüber dem Anzeiger. Zumal rein rechtlich ohnehin die Verkehrsteilnehmer die Schuld trügen und nicht die Behörden oder die Infrastruktur. Gleichwohl habe man bereits 2016 eine Entschärfung dieses Gefahrenbereichs gefordert.
In einem Eintrag beim Online-Mängelmelder der Stadt Gießen hatte der ADFC angeregt, die Haltelinie für Radfahrer an der Ecke Sudetenlandstraße vorzuziehen, sodass diese nicht mehr im toten Winkel hoher Fahrzeuge lägen. Das sei auch leichter umzusetzen als eine Rückverlegung der Haltelinie für Kraftfahrzeuge, weil das die Räumzeiten von Fahrzeugen an einer Ampel während einer Grünphase so verändere, dass Ampeln umprogrammiert werden müssten, erläutert Fleischhauer. Und das sei wiederum mit einem hohen organisatorischen Aufwand verbunden.
Wenn eine Ampel von Grün auf Rot schalte, dürfe der nächste Verkehrsstrom nämlich noch nicht sofort Grün erhalten, weil Autos, Radfahrer oder Fußgänger den Bereich, in dem sie gerade Grün hatten, noch verlassen müssen. Es gebe daher zwischen den Grünzeiten der jeweiligen Richtungen Räumphasen, in denen die Kreuzung freigemacht werde. Autos seien wegen der höheren Fahrgeschwindigkeit schneller aus dem Konfliktbereich verschwunden als Fußgänger oder Radfahrer.
Wenn also eine Haltelinie für Autos zwei Meter nach hinten verlegt werde, man aber nichts am Signalprogramm der Ampel ändere, führe das dazu, dass das letzte Auto zwei Meter weiter hinten in der Kreuzung steht, wenn der nächste Verkehrsstrom Grün bekommt.
In der Regel müsse deshalb dann auch die Grünzeit um beispielsweise eine Sekunde verkürzt und die Räumzeit um eine Sekunde verlängert werden. Wenn die Haltelinie jedoch nach vorne verlagert werde, verlasse der Verkehrsteilnehmer schon früher den Gefahrenbereich, sodass dies nie zu Problemen führe.
Ein Signalprogramm zu ändern, sei dagegen teilweise nicht möglich, weil die Steuergeräte der Ampeln zum Teil so veraltet seien, dass sie sich nicht mehr umprogrammieren ließen oder die Angst bestehe, dass das Steuergerät nicht mehr hochfahre, wenn man es umprogrammiere. Neue Signale an bestehende (und veraltete) Steuergeräte anzuschließen, sei oft auch nicht möglich. Dann müsste man das ganze Steuergerät ersetzen. Das koste natürlich Geld und mache Arbeit.
Bürgermeister Alexander Wright (Grüne) räumt ein, dass die bauliche Situation in der Marburger Straße »für uns an dieser Stelle nicht zufriedenstellend ist«. Es handele sich um ein Beispiel von sehr vielen, das man als »verbesserungsbedürftig identifiziert« habe. Fest eingeplant für die Kreuzung Sudetenlandstraße/Marburger Straße sind - wie vom ADFC gefordert - die Ausweitung des Radaufstellstreifens, aber auch barrierefreie Übergänge durch taktile Elemente, die Absenkung der Bordsteine, Schalter zur Grünphasen-Anforderung für mobilitäts- und seheingeschränkte Personen und eine dritte Querung für Fußgänger, die einen direkten Übergang zwischen den beiden Supermärkten gewährleisten soll. Auch sollen die Ampeln versetzt und der Radfahrstreifen vom Wiesecker Weg verbessert werden.
Die Summe dieser Maßnahmen führe de facto zu einer Neuplanung der Marburger Straße ab dem Knoten Wiesecker Weg bis zur Bückingstraße, ergänzt Wright. Und das bedeute, dass dieses Projekt erst nach dem Verkehrsversuch auf dem Anlagenring realisiert werden könne, da die Marburger Straße eine wichtige Zufahrtsstraße für den Anlagenring sei. Und diese Zufahrt will die Stadt während des Verkehrsversuchs möglichst baustellenfrei halten.
Allein in diesem Jahr seien bereits 15 Verkehrsknotenpunkte modernisiert worden: Schiffenberger Weg/Am Unteren Rain, Grünberger Straße/Curtmannstraße, Grünberger Straße/Wolfstraße, Rodheimer Straße/Krofdorfer Straße, Rodheimer Straße/Schlachthofstraße, Eichgärtenallee/Rudolf-Diesel-Straße, Liebigstraße/Ludwigstraße, Wilhelmstraße/Ludwigstraße, Oswaldsgarten, Roonstraße/Moltkestraße, Nordanlage/Steinstraße, Marburger Straße/Schwarzlachweg, Frankfurter Straße/Lahnstraße, Alten Busecker Straße/Steinere Brücke, Marburger Straße/Wiesecker Weg.
Im kommenden Jahr werden 13 weitere Knotenpunkte umgebaut: Ludwigsplatz, Aulweg/Wartweg, Ludwigstraße/Bismarckstraße, Robert-Sommer-Straße/Max-Reger Straße, Grünberger Straße/Heyerweg, Frankfurter Straße/Alicenstraße, Ludwigstraße/Bleichstraße, Frankfurter Straße/Schubertstraße, Westanlage/Parkhaus, Nordanlage/Dammstraße, Kennedyplatz, Berliner Platz, Grünberger Straße/An der Volkshalle.